Perspektive Nationalstolz

Rund drei Milliarden Euro hat die Europäische Union bisher in den Aufbau der Republik Kosovo gesteckt. Das Ergebnis ist ernüchternd.

Wenn man in Prishtina aus dem Flugzeug steigt und über die Rollbahn in die Abfertigungshalle läuft, passiert man ein kleines Propellerflugzeug in den frisch designten Landesfarben blau und gelb, auf dem steht: „Recognize the Independency oft he Republic Kosovo!“ Die fehlende Anerkennung des Großteils der Staatenwelt (aktuell haben 73 von 192 UN-Mitgliedern die Unabhängigkeit anerkannt) sitzt den Kosovaren wie ein Stachel im Fleisch. Und so kommt es schon mal vor, dass ein kosovarischer Parlamentarier seinen Urlaub in den Dienst des Staates stellt, um mit einer neuen Anerkennung aus der Karibik heimzukehren. Ein weiterer Dorn ist die europäische Perspektive.


Der Minister für Europäische Integration der Republik Kosovo, Besim Beqaj, stellte bei einem Gespräch im Parlament die europäische Perspektive des Kosovo als ein herausragendes Ziel dar – in eindringlichen Worten mahnte er die internationale Gemeinschaft, und damit vor allem die Europäische Union, weiterhin in das kleine Land auf dem Balkan zu investieren, das im Februar 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt hatte. Wichtige Etappenziele seien die Visaliberalisierung und der Abschluss von Freihandelsabkommen. In diesem Zusammenhang wies er auch darauf hin, dass die genannten Privilegien Serbien bereits gewährt wurden, was in der Bevölkerung als Ungerechtigkeit empfunden werde.

„Der Weg für das Kosovo in die EU ist noch sehr weit“
Die Äußerungen des Ministers werden von fast allen Gesprächspartnern immer wieder wiederholt. „Der Weg für das Kosovo in die EU ist noch sehr sehr weit“, lautet hingegen die (inoffizielle) Einschätzung eines Mitarbeiters im Verbindungsbüro der Europäischen Kommission in Prishtina. Und das, obwohl die Vereinbarkeit der Gesetzesbestandes mit dem Acquis Communitaire der EU von Anfang an bedacht wurde. Tatsächlich wird in dem kleinen Staat aber so gut wie nichts produziert, eine Wirtschaft ist praktisch nicht vorhanden. Mit 1840 Euro lag das Bruttoinlandsprodukt, pro Kopf gerechnet, hinter den Werten von Staaten wie Ägypten oder der Republik Kongo. Immer noch leben viele Menschen vor allem von Unterhaltszahlungen emigrierter Angehöriger in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Allein in der BRD leben derzeit zwischen 200 000 und 300 000 Kosovoalbaner dauerhaft. Die Armut in den ländlichen Regionen ist schockierend. Nach Schätzungen der Weltbank lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.
Der Publizist und Philosoph Shkelzen Maliqi weist auf die absehbaren negativen Folgen einer vorzeitigen Annäherung an die EU hin: die wegbrechenden Zolleinnahmen würden einen wichtigen Teil des Bruttoinlandproduktes herschenken, denen keine nennenswerten Exporte gegenüber stünden. Zudem könnte eine Visaliberalisierung eine massenhafte Ausreise von Jugendlichen zur Folge haben, die bei einer geschätzten Jugendarbeitslosigkeit von 80 Prozent keine Perspektive im eigenen Land sehen.
Die Mitglieder der Jungen Europäischen Föderalisten Kosovo bezeichnen die Hoffnung auf größere Reisefreiheit als ihr wichtigstes Anliegen. Sie stehen beispielhaft für die schmale Schicht hervorragend ausgebildeter junger Menschen, die nach Prishtina zurückgekehrt sind und nun meist für die zahlreich vertretenen internationalen Organisationen arbeiten, als Dolmetscher oder Berater. Ihre Zukunft ist gefährdet – es ist zweifelhaft, ob ihre Jobs, genauso wie das mondäne Nachtleben der Hauptstadt, erhalten bleiben, wenn die „Internationals“ einmal wieder abziehen. „Wir dürfen praktisch nirgendwohin, außer nach Albanien oder in die Türkei. Mal eben ins Ausland für ein Auslandssemester oder auch nur in den Urlaub? Es ist eine Tortur, ein Visum zu bekommen, sehr teuer und oft von der Willkür der Beamten abhängig“, berichtet Fis Mula, Präsident der JEF Kosovo.

„Auch ausländische Diplomaten machen einen guten Schnitt“
Bei der praktisch ungehemmten Korruption im Land und der politischen Elite könne man auch nicht gerade von einem guten Investitionsklima für ausländische Unternehmen sprechen, schildert der Journalist Avni Zogiani. „Jeder weiß, dass Präsident Thaci Dreck am Stecken hat. Aber auch ausländische Diplomaten machen hier einen guten Schnitt, ohne dass dabei ein Mehrwert für die kosovarische Bevölkerung entsteht“, berichtet Zogiani weiter und nannte unter anderem den amerikanischen Botschafter als einen offensichtlich korrupten Agenten seiner eigenen Wirtschaftsinteressen. Zogiani ist einer der ganz wenigen, die sich trauen, öffentlich die Korruption im Land anzuprangern. Der Preis dafür ist hoch: „Ich werde regelmäßig massiv bedroht. Die Angst gehört inzwischen zu meinem Leben.“
Ein Besuch in Mitrovica in der Problemregion Nordkosovo macht weitere Defizite deutlich. Mit gebührendem Sarkasmus führt ein Vertreter der EU-Mission EULEX, bislang das größte außenpolitische Projekt der EU, durch die ethnisch geteilte Stadt und offenbart dabei nicht ganz freiwillig die unzureichende Ausstattung der Mission, der kosovarischen Polizei und der praktisch nicht vorhandenen Justiz. Weiterhin blüht die Organisierte Kriminalität im quasi rechtsfreien Grenzgebiet zu Serbien. Obwohl flächenmäßig nicht größer als Hessen und trotz der massiven Präsenz von NATO, EU und Vereinten Nationen ist das Kosovo auch 12 Jahre nach Ende des Krieges einer der zentralen Umschlagplätze für den Frauenhandel und Opiate aus Afghanistan. Die immensen finanziellen Zuschüsse der EU, die sich Ende 2010 auf mehr als drei Milliarden Euro summierten, haben bisher vor allem deshalb geringe Effekte erzielt, weil die Maßnahmen zu wenig an die Bedingungen und Gegebenheiten vor Ort angepasst wurden und es an einer klar konzipierten und konsistenten Wirtschaftsstrategie bis heute mangelt.
„Die größte Ressource im Land ist wahrscheinlich der Nationalstolz“, bemerkt Professor Arben Hajrullahu von der Universität Prishtina, die seit ihrer Gründung 1972 Partneruniversität der Uni Jena ist.

Briefe aus Prishtina

Teil 4: Die Brücke von Mitrovica

„Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate.“ So rülpste sich vor kurzem der ehemalige Finanzsenator von Berlin, Thilo Sarrazin, seinen privilegierten Frust von der Seele. Das Zitat mag verraten, wie es um die historischen Kenntnisse und das politische Feingefühl Sarrazins bestellt ist. Erhellendes über die komplizierte Geschichte des Kosovo erfahren wir dabei leider nicht (über die deutsche im Übrigen auch nicht). Der Satz könnte auch von Milosevic selbst stammen, so wunderbar fügt er sich in dessen nationalistische Argumentation, die auch heute noch die serbischen Lehrbücher zu Leichen der Vernunft macht. „Eine Aufklärung über die jüngste Geschichte des Balkan, mit ihren verheerenden Kriegen, findet nicht statt. Auch in der Schule wird – im besten Fall – nicht darüber geredet“, berichtet uns Dr. Christian Christ-Thilo, Projektleiter Westbalkan der Friedrich-Naumann-Stiftung, in Belgrad.
„Weder die Albaner noch die Serben setzen sich objektiv mit dem Konflikt auseinander. Beide sehen sich am liebsten als Opfer des Krieges und das Gefühl, benachteiligt worden zu sein verstärkt sich mit der Zeit. So schwelt der Konflikt weiter“, bestätigt Hanns-Christian Klasing aus dem Norden des Kosovo. Er ist Pressesprecher der EU-Mission EULEX in Mitrovica und hat den tiefen Graben zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen täglich vor Augen. Denn das 100 000 Einwohner zählende Mitrovica ist eine geteilte Stadt. Südlich des Flusses Ibar wohnen die etwa 80 000 Kosovoalbaner, während im Norden die ca. 20 000 Serben und Angehörige anderer Minderheiten leben. Zwei Brücken führen über den Fluss, doch sie werden kaum genutzt. Auf der gegenüberliegenden Seite spricht man eine andere Sprache, hat eine andere Religion, Währung, Flagge, Autokennzeichen, eigene Behörden. Einzig bei der Mafia spielt die ethnische Zugehörigkeit überhaupt keine Rolle. Da arbeiten Serben und Albaner prima zusammen.
Nur ein ehrlicher Umgang mit der Geschichte wird verhindern können, dass beide Volksgruppen sich irgendwann wieder bekämpfen, statt die gemeinsamen Probleme auch gemeinsam zu lösen. Aber für diese Erkenntnis muss man eigentlich nicht erst Senator werden.

Zum Abschluss der Anhörungen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Wie viel UNMIK und EULEX steckt in der Republik Kosovo?

In ihren Stellungnahmen vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag drückte sich die deutsche Regierung unmissverständlich aus: die Unabhängigkeit des Kosovo ist Realität und nicht mehr zurückzunehmen. Deshalb betont Deutschland auch, dass dem Gutachten eine eng umrissene Fragestellung zu Grunde liegt: „Ist die unilaterale Unabhängigkeitserklärung durch die provisorischen Institutionen der Selbst-Regierung des Kosovo in Einklang mit dem internationalen Recht?“
Die Vergangenheit hat jedoch gezeigt, dass der IGH gern über die eigentliche Fragestellung hinaus geht. Auch Völkerrechtler Matthias Ruffert von der Universität Jena weist daraufhin, dass die Statusfrage praktisch immanent ist. Ein Gutachten stellt zwar keine verbindliche Entscheidung dar, für das beantragende Organ – in dem Fall die Generalversammlung der UN – schafft es dennoch neue rechtliche Grundlagen.
Das Selbstbestimmungsrecht der Kosovo-Albaner im Sinne des Völkergewohnheitsrechts ist nicht bestreitbar. Der IGH wird auch das Sezessionsrecht der Kosovaren, als eine Art Notwehrrecht, das ausgeübt werden kann, wenn einem Volk der Verbleib in einem Staat nicht mehr zugemutet werden kann, anerkennen. Er wird auch schwere Menschenrechtsverletzungen und die systematische Verweigerung fundamentaler Rechte der Kosovo-Albaner durch die Serben bestätigen. (Es wird interessant sein zu sehen, ob in dieser Frage auch die Verbrechen der UÇK beleuchtet werden und die Tatsache, dass die fatale Logik der interethnischen Auseinandersetzungen im Kosovo Aggressoren auf beiden Seiten kennt, auch in der jüngsten Geschichte.)
Ein Fall sui generis liegt allerdings in der zweiten entscheidenden Frage vor: erfüllt(e) das Kosovo die Qualität eines souveränen Staates? Hier gilt es zu bewerten, ob es eine effektive Staatsgewalt über ein Staatsvolk auf einem Staatsgebiet gibt. Einiges spricht dagegen: die Übergangsverwaltung durch UN und EU hat wesentliche Kompetenzen in Judikative, Exekutive und vor allem der Legislative. Ohne Zustimmung von Yves de Kermabon, Leiter der EU-Mission EULEX, kann Premier Hashim Thaçi kein Gesetz verabschieden. Die Kompetenzen sollen schrittweise an die Selbstverwaltungsorganisationen des Kosovo übertragen werden. In der Praxis zeigt sich aber, dass den kosovoalbanischen Beamten Erfahrung und Ausbildung fehlen und die niedrigen staatlichen Gehälter von Korruption abhängig machen (eine Putzfrau bei der EULEX verdient ungefähr doppelt soviel wie ein Richter). Selbst große Teile der Verfassung wurden von einer Agentur der EU in Flensburg entworfen. Nördlich des Ibar, wie generell in den mehrheitlich von Serben bewohnten Gebieten, werden die Institutionen der Republik Kosovo nicht anerkannt. Parallelinstitute wurden aufgebaut, die serbische Währung und Autokennzeichen beibehalten, Wahlen werden ignoriert, auch weil hochrangiges politisches Personal aus ehemaligen UÇK-Kommandeuren besteht.
Letztlich wird der IGH also entscheiden müssen, wie viel Protektorat ein Staat verträgt und wie viel UNMIK und EULEX in der Republik Kosovo stecken.

Briefe aus Pristina

Teil 2: We want the Germans!

Als die NATO im März 1999 mit Luftangriffen die Vertreibung der albanischen Bevölkerungsmehrheit durch die Serben bekämpfte, bedeutete das auch für Deutschland einen Wendepunkt in der Geschichte. Zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges befanden sich wieder deutsche Soldaten im Kampfeinsatz. Im Mai diesen Jahres hat der Bundestag beschlossen, die Truppenstärke weiter zu reduzieren, sodass zurzeit noch rund 2200 Bundeswehrsoldaten im Rahmen der NATO- geführten Schutztruppe KFOR in Prizren stationiert sind. Nur hört man nichts mehr von ihnen.
Wie lange die Bundeswehr noch im Kosovo präsent sein wird, darüber möchte Major Gericke bei unserem Treffen in Prizren nicht spekulieren. Dennoch lässt man sich gerade ein großes neues Wirtschaftsgebäude bauen. „Die Medien interessieren sich natürlich nicht mehr so für uns wie zu Beginn. Dennoch ist unsere Präsenz wichtig, damit ein Progrom wie 2004 nicht noch einmal passiert.“ Damals kam es zu gewalttätigen Unruhen, als albanische Extremisten die letzten Serben vertrieben und orthodoxe Kirchen und Klöster angriffen. Bis heue erinnert sich der Major der Luftwaffe, der auch damals vor Ort war, nicht gern an die Tage des blutigen Aufstandes. „Für Polizeiaufgaben waren wir nicht ausgebildet. Mit Panzern kann man nicht gegen Zivilisten vorgehen.“
“These walls won’t keep them out. They’ll keep you in“, heißt es in dem Lied “Pristina“ von Faith No More. Und die ethnische oder religiöse Frage ist tatsächlich nicht mehr das größte Problem im Kosovo. In Prizren beispielsweise gibt es unter 170 000 Einwohnern nur noch 30 (!) Serben. Dementsprechend ruhig ist die Lage heute. Aber die Arbeitslosigkeit liegt bei 50 Prozent, Korruption und organsierte Kriminalität ziehen sich bis in höchste Regierungskreise.
Dennoch ist die südliche Region des Kosovo, in der die Bundeswehr agiert, die am besten entwickelte und die Soldaten sind bei der Bevölkerung sehr beliebt. Etwas spöttisch meint ein Restaurantbesitzer in Peja (West-Kosovo): „Hätten wir nicht auch die Deutschen bekommen können?“ Eine Frage die uns außerhalb Prizrens öfter gestellt wird. Foto: Martin Parlow, Martin Roth

Briefe aus Pristina

Teil 1: Des Präsidenten Leibgarde

Kosovo – dieses kleine Land auf dem südöstlichen Balkan – es vereint 1001 Gegensätze miteinander. Es kann seine Gäste mit unvergleichlichem Charme und Vitalität vereinnahmen und im nächsten Moment mit den hässlichen Narben eines langen Krieges betroffen machen. „Es wäre einfacher für mich, mit Waffen oder Drogen zu handeln als mich mit ehrlicher Arbeit durchzuschlagen“, erzählt unser Taxifahrer. Zwölf Jahre lang hat er einen der gefährlichsten Jobs überhaupt gehabt, war Leibwächter des Präsidenten Ibrahim Rugova. „Im Krieg habe ich zwei Granatsplitter in den Rücken bekommen. Nun bleibt mir nix anderes übrig als Taxi fahren.“ Aber dann schwärmt er auch schon von den Frauen Pristinas, die er (nicht ganz zu Unrecht) als die schönsten der Welt bezeichnet, von Peja, dem besten Bier (der Welt…), und beschreibt uns den Weg zu ein paar Nachtklubs, die wir unbedingt besuchen sollten.
Die Absurdität, das Chaos und Improvisierte, Brutalität und Lebenslust – das alles sind Elemente des täglichen Lebens im Kosovo. Im Februar 2008 erklärte das Kosovo (ehemals jugoslawische und serbische Provinz) seine Unabhängigkeit als vorläufigen Schlusspunkt eines Konfliktes, der 1989 begann, dessen Geschichte aber bis ins Jahr 1389 zurückreicht. Das Kosovo ist damit der jüngste Staat der Welt – mit einem der ältesten Probleme der Welt.
Die Tourismusbranche des Kosovo hat eindeutig noch Wachstumsreserven – dezent ausgedrückt. Dennoch hat das kleine Land seine Reize: die atemberaubende Landschaft, die vor allem im Süden und Westen mit den wildromantischen Gebirgsketten und Flussläufen mehr als sehenswert ist, und das Nachtleben Pristinas. Und auch wenn Korruption und organisierte Kriminalität die größten Wirtschaftsfaktoren im Kosovo sind, fühlt man sich als Tourist nicht unsicher. Das Wohlbefinden der Gäste ist Quell größter Sorge und Bemühungen für die Einheimischen und es ist weitaus wahrscheinlicher auf ein Getränk eingeladen als ausgeraubt zu werden. Diese Herzlichkeit macht so einiges an Desaster wieder wett. Noch ist der Latte-Machiato-Revanchismus nicht ganz im Kosovo angekommen und vieles ist noch wunderbar unverbraucht. Deshalb der Tipp: den Balkan vom Kosovo aus kennenlernen!
Demnächst in Teil 2: „We want the Germans!“ Zu Besuch bei der Bundeswehr in Prizren. Die monatliche Kolumne „Briefe aus Pristina“ erscheint deutschlandweit immer zuerst im port01.
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