Das Durchfallschneewittchen (1.Akt)

1.Akt

Es war einmal in Berlin. Im schönen Stadtteil Schöneberg lebten vier junge Menschen in einer WG. Sie lebten friedlich zusammen, jeder beschäftigt mit den Notwendigkeiten täglichen Überlebens, mit bilden und Geld verdienen, in den üblichen Drehtüren von Beziehungen, Jobs und Krisen zirkulierend. Bis sie eines Tages unerwarteten Besuch bekamen.

Pit, Lehrling in einer Sterneküche am Potsdamer Platz, 23 Jahre, Abitur, erwartete Besuch seines alten Schulfreundes Lou, den er seit dem gemeinsamen Kroatien-Trip, der damals schon drei Jahre zurück lag, nicht mehr gesehen hatte und der sich inzwischen zu einem ernsthaften Biertrinker entwickelt hatte, nicht minder organisiert als in der Burschenschaft Corps Saxonia in Dresden.
Als dieser Lou an jenem oktobrigen Morgen an der Tür des alten Mietshauses klingelte, erreichte Pit gerade eine SMS seines Bruders: WOLLTE EIGENTLICH BEI DIR VORBEIKOMMEN HEUT, ABER ERST WENN DIE BEIDE BEKLOPPTEN WEG SIND! UND KEIN WORT VON MIR!!
Macht nix, dachte er. Aber was sollte das heißen, die „beiden Bekloppten“? Na ja, es ging ihm auf jeden Fall nicht gut. Er hatte die letzten neun Tage am Stück 15 Stunden gearbeitet, nicht ungewöhnlich für einen Lehrling des Pure. Neben dem Hungerlohn von 475 Euro, den er regelmäßig durch das Klauen von Lebensmittel aus der Hotelküche aufzustocken gezwungen war, und der chronischen Übermüdung, musste er sich auch noch in der Mittagspause vor zwei Tagen einen Weisheitszahn ziehen lassen, was in einer beträchtlichen offenen Wunde resultierte, die flimmernd in seinem Kiefer pulsierte als er Lou an der Tür begrüßte. Er hatte seine neue Freundin mitgebracht. (Also deshalb Plural! Woher wusste…?) Susi aus Dresden. Sie begrüßte ihn nur leicht und erfragte sich gekrümmt den Weg zur Toilette, den sie als laufender rechter Winkel auch sogleich antrat. Erklärungsversuche des freudig seinen alten Freund umarmenden Lou erübrigten sich mit einem leicht durch Stöhnen übertönten flüssigen Knattern
„Susi, meine Freundin seit 2 Monaten. Sie wollte eigentlich nicht mitkommen, weil sie irgendwie Magenprobleme hat, sonst hätt’ ich dir vorher bescheid gesagt…“
„Aber ich wollte nicht ohne meinen Schatz sein!“, ruft es aus der Toilette.
„Naja, ist es OK wenn sie mit hier bleibt für ein paar Tage?“
Natürlich war Pit einverstanden. Schließlich war Susi die Freundin seines Freundes. So bestimmte auch eher ein seichtes Mitgefühl seinen ersten Eindruck von ihr. Doch seine Neugierde auf ihre Bekanntschaft machte schnell einem genervten Stirnrunzeln Platz, als sie nach einer gefühlten halben Stunde das Bad verließ und, eine ausführlichere Begrüßung schuldig bleibend, mit einer Flasche Desinfektionsmittel in der Hand auf den Aschenbecher zeigte und erklärte, dass „ihr Lou“ jetzt Nichtraucher sei, was sie energisch erwirkt habe, und dass er jetzt doch bitte nicht wieder in Versuchung gebracht werden solle. Daraufhin tapselte Susi Richtung Tisch und setzte sich mit einer rapiden Drehung auf Lous Schoß, mit einer Hand in der Tüte selbstgemachter Brownies wühlend, die Pit eben auf den Tisch gestellt hatte. Pits Gedanken sammelten sich in einem skeptischen Blick und besagtem Stirnrunzeln, während er erneut an seiner Zigarette zog, die er dann mit einem Schulterzucken Richtung Lou ausdrückte. Dieser drückte seinen Mund schmatzhaft säuselnd auf Susis Stirn, die sich gerade mit der ausladenden Geste des Siegers ein weiteres Stück geklautes selbstgemachtes Gebäck in den Mund fliegen ließ und mit dem Zeigefinger die schokoladigen Reste hinterher schob, die bei der Ladung wegen Kapazitätsauslastung auf der Unterlippe zwischengeparkt werden mussten.
„Was ist denn mit deiner Backe passiert“, fragte sie Pit mit vollem Mund, und wäre er nicht wie ein Boxer zurückgeschnellt, hätte er ihren Dessert-Zeigefinger wohl im Schmerzzentrum angetroffen.
„Weisheitszahn.“
„Och, du Armer! Na zum Glück sind gerade Ferien, ne?!“
„Was denn für Ferien, ich muss nachher noch auf Arbeit, von Zwölf bis Zwölf. Eigentlich kann ich echt keinen Krankenschein nehmen, ich bin erst seit dieser Woche in der großen Küche des Hotels, die die den Stern hat und wo ich die ganze Zeit schon arbeiten will.“
„Pit ist Koch, Schatzi, hab ich dir doch erzählt“, klärte Lou Susi mit seinem Schmusiblick auf, für den er auch prompt ein „Knuddeli“ erntete.
„Och, du Armer!“, wiederholte sie. „Was machst du denn, wenn du nicht in der großen Küche bist?“
„Alles Mögliche: Zimmerservice, Frühstücksbüffet, Bedienung,…“
„Aber ich denke, du bist Koch?“
„Ja, ich wusste auch nicht, dass das alles mit zur Lehre als Koch gehört. Als ich…“
„Na schön blöd! Da muss man sich doch vorher informieren. Also ich würde mich nicht so ausbeuten lassen! Ich hab doch nicht umsonst Abitur gemacht. Warum studierst du denn nicht? Ist doch easy going!“
„Doch, will ich ja, aber für Eventmanagement muss ich erstmal noch 5 Wartesemester überbrücken, also dachte ich, ich mach vorher noch ne Lehre…“
„5 Wartesemester? Da musst du ja einen extrem schlechten Durchschnitt gehabt haben!“
„Das hat doch damit gar nichts zu tun! Eh, was reg ich mich eigentlich auf…“ Doch bevor Pit seinem Ärger Luft machen konnte, sank Susi mit einem schmerzverzerrten Piepsen zu Boden und schleppte sich im Vierfüßlergang aus der Küche. Konsterniert blickten die Freunde der Entschwundenen hinterher. „Hast du schon mal ‚Die Verwandlung’ von Kafka gelesen?“, fragte Pit und drehte sich eine neue Kippe.
„Mach dich nicht lustig. Sie ist eigentlich ein echter Schatz, diese Magen-Darm-Infektion macht ihr halt zu schaffen“, sagte Lou und ein flüssiges Knattern aus dem winzigen (einzigem) WC der WG karikierte seine trotzige Miene.
„Mag schon sein. Ich kann ja dann auch auf Arbeit kacken gehen.“
„Jetzt mach mal halblang! Sie desinfiziert ja schließlich auch alles wieder.“
„Desinfiziert? Wieso, ist das auch noch ansteckend?!“

Marcel, 23 Jahre, Filmstudent, machte mit Susi auf dieselbe Art Bekanntschaft wie zuvor Pit. Er traf sie auf dem Weg zum Klo. Allerdings bewegte sie sich in seinem Fall auf allen vier Gliedmaßen. Von den Schwindelanfällen der letzten Tage noch zu sehr gebeutelt, fiel ihm statt eines spitzfindigen Kommentars leider nur ein dösiges Schluchzen ein, von dem nicht ganz klar war, ob es ihr oder sein Unbehagen beschreiben sollte.
Er war fertig mit der Welt. Der Rohschnitt seines Kurzfilmes, an dem er ein ganzes Semester lang oft zwölf Stunden und länger gearbeitet hatte, ist von den Dozenten der Filmhochschule äußerst kritisch aufgenommen worden. Das Drehbuch, der Arbeitsprozess, die Auswahl des Drehteams, die Vorbereitungen und die Proben mit den Schauspielern, in allem war er ein halbes Jahr lang unterstützt und bekräftigt worden, und nun saß er seit einer Woche im Kino der Uni und sah immer neue Einwände sich aus den Mündern der Kritiker winden. Auf einmal forderten sie eine Erzähldistanz, der Film wirke zu fahrig, wolle zu viel, es fehle eine Kernaussage! Und sobald sich ein Lichtstreif am Horizont zeigen wollte, sobald sich ein Dozent der Aussage des Filmes, nämlicher seiner Aussagelosigkeit, zu nähern schien, den Mut seines Konzeptes lobte, die bestehende Kritik vor dem Bilde der Unfertigkeit des Rohmaterials und der Unkonventionalität neu bewerten zu wollen schien, wurde alles wieder auf „Normalnull runtergequatscht“, wie er fand. „Betriebsblind!“ oder „Klar, die wollen nur testen, wie sehr ich mein Konzept verteidige!“, dachte er zu Beginn, doch langsam fraßen ihn selbst Zweifel an dem Film an. Noch stand sein Team hinter ihm, aber werden sie das nächste Mal nicht doch lieber mit jemandem arbeiten, dessen Projekt vorbehaltlos gut ankommt? Der Stress zwang ihn jetzt jedenfalls, zum allerunpassendsten Zeitpunkt, zu einer Zwangspause, da sich seine unerklärlichen Schwindelanfälle wieder heftiger äußerten.
Er setzte sich zu den beiden Jungs in die Küche und musterte die leere Tüte Brownies. „Schon alle?“ Nachdem längere Zeit keine Antwort zu verzeichnen war, musterte Marcel die beiden Freunde, die sich mit verschränkten Armen und zu Boden gewandtem Blick gegenübersaßen. „Schlechte Laune?“
„Scheiße, eh, das sah ja schon fast rot aus, was da grad aus mir raus geplatzt ist!“ Fast aufrecht gehend hatte Susi wieder die Küche betreten und stellte sich hinter Marcels Stuhl. Als dieser sich umdrehte, quiekte sie: „Hilfe, ein Geist!“ Er konnte lediglich mit einem irritiertem, lang gezogenem „Eeeeh“ antworten, woraufhin Susi wieder das Wort ergriff: „Was ist denn mit dir passiert? Sag bloß du hast auch einen beschissenen Job, wo du schlecht bezahlt wirst für ätzend viel Arbeit und Krankenscheine Tabus sind?“
Marcel schluckte. „Naja…eigentlich trifft das schon alles zu…“
Susi äffte ein Schnarchen nach. „Aber?“
„Aber…beschissen würd’ ich nicht sagen. Eigentlich. Hätte schlimmer kommen können, echt!“
„Hätte, hätte Fahrradkette! Was machst du denn?“
„Ich studiere Regie in Babelsberg.“
„Cool! Dann kannst du ja mal nen Film machen über die beiden Trauerweiden hier drüben!“
Abgesehen davon, dass ihm Sätze wie „darüber müsste man mal einen Film machen“, „das müsstest du mal drehen“ oder „das wär ne coole Story, mach doch da mal was drüber“ inzwischen einen kalten Schauer über den Rücken jagten, zuckte der höhnische Unterton, den er in Susis Exklamation wahrzunehmen glaubte, wie ein Unheil verkündender Blitz in der dunklen Wolkendecke seiner Gemütslage. Er war sich noch gar nicht schlüssig, ob er eine weitere Kommunikation anstrengen oder doch lieber zurück ins Bett gehen wollte, als Susi nach dem Desinfizierungsspray schnappte und erneut zum Klo kreuchte.

Als Elias, 24 Jahre, Schauspielstudent, ebenfalls in Babelsberg, die Wohnung betrat, sah er gerade noch einen brünetten Haarschweif hinter der Toilettentür verschwinden, fast gleichzeitig mit dem Einsetzen eines lauten, irgendwie flüssig klingendem Knattern. Er kam gerade von der Probe zu einem Theaterstück, das die Abschlussprüfung seines Studiums werden sollte. Und es war richtig schlecht gelaufen an jenem verhängnisvollen Morgen. Natürlich konnte er sich das Stück nicht selbst aussuchen, aber musste es ausgerechnet Othello sein, dachte er.
„Hätte den Dozenten nichts Originelleres einfallen können, als für den einzigen Schwarzen an der Uni Othello, den Mohr von Venedig, als Prüfungsstück auszuwählen?“, fragte er, betrat die Küche und lehnte sich an die Spüle. Den Blick auf das Gewürzregal gegenüber geheftet und halb zu sich selbst redend, halb zu den in der Küche Anwesenden, die mit paralysiertem Blick auf die Tischplatte starrten als wäre sie aus lebenden Würmern, fuhr er fort:
„Shakespeare, ja toll, großer Klassiker, aber mit Sätzen wie“, er zog ein gelbes Reclamheftchen aus seiner Manteltasche und las, mit beiden Händen gestikulierend: „Es ist noch unbekannt, (ich werd es aber beweisen, wenn die Rettung meiner Ehre mich zu einem Schritt zwingt, den ich sonst als eine meiner unwürdige Pralerey ansehe,) daß mein Blut aus einer königlichen Quelle geflossen ist; und meine Verdienste allein sind, ohne Vergrösserung, zulänglich auf ein so stolzes Glük Anspruch zu machen, als dieses ist, dessen ich mich bemächtiget habe. Damit kann ich mich einfach nicht identifizieren. Ich hätte lieber etwas näher am Puls der Zeit gearbeitet. Natürlich, Rassismus kann man sich aus dem Shakespeare-Stück wirklich nicht saugen, das will ich ja auch gar nicht behaupten. Entschuldigt, Freunde, da gingen vielleicht einfach die Pferde mit mir durch. Die Verfilmung mit Denzel Washington zum Beispiel ist brillant! Aber wisst ihr, die Rolle als Mohr in Shakespeare scheint mir genauso unangenehm extrovertiert wie die Rolle als Mohr in Rudolstadt, die ich allerdings nicht nur einmal oder nur für eine Saison, sondern 18 Jahre lang spielen musste. Aber egal, alles was ich jetzt will, ist, mich hinsetzen, mit euch einen Kaffee trinken und ein Tütchen rauchen.“
Er setzte sich und begrüßte Lou, den ihm Pit als alten Schulfreund vorstellte. Danach setzte wieder Schweigen ein. Elias stand auf, schraubte die Mokka-Kanne auseinander, spülte sie und befüllte sie erneut mit Kaffee (Lavazza Dolce Gusto, auch aus dem Hotel).
„Habt ihr irgendwie schlechte Laune? Ist was passiert?“
Just in dem Moment erschien Susi wieder in der Küche. Sie reichte Elias die Hand.
„Oh mein Gott“, sagte er, „sie ist eine wahre Desdemona! Das Stück verfolgt mich sogar bis nach Hause! Womit habe ich das nur verdient? Am besten ich gehe einfach ins Bett und warte bis ich aufwache.“
„Oh mein Gott“, sagte Susi, und streifte sich dabei mit ihrem Handrücken theatralisch den frischen Schweiß von der Stirn, „du passt ja wirklich gut in diese Ansammlung von Deprimierten. Ich dachte mir geht’s grad scheiße, aber ich glaub, ich würde echt nicht mit einem von euch tauschen wollen! Versuchs doch mal mit einem Lächeln, hm, wie wär das? Wie war deine Name noch mal?“
„Elias“, seufzte er.
„Ich mein das echt so. Ein Lächeln würde dir bestimmt supi stehen! Meine Freundin hat auch so ein süßes kleines Negerbaby wie dich! Den find’ ich total knuddelig. Und wer ist eigentlich Desdemona?“
Elias holte tief Luft, wobei er demonstrativ den Brustkorb hob. Dabei drehte er sich zu den Freunden, schüttelte den Kopf und hauchte: „Das war zuviel…ich glaub, ich muss wirklich einfach ins Bett.“

Barbara war die vierte Mitbewohnerin jener WG, von denen es damals noch so viele gab.

2.Akt
Susi erhöht den Nervfaktor, bis die Stimmung umschlägt und selbst Lou nicht mehr bereit ist, ihre Art zu tolerieren. Aber während die anderen versuchen, sie dezent darauf hinzuweisen, dass ein längerer Aufenthalt nicht erwünscht sei, fängt Lou zunehmend an, sich hemmungslos zu betrinken. Während Marcel und Elias vor allem psychisch unter Susi leiden, bekommen Pit und Barbara zunehmend gesundheitliche Probleme. Sie haben sich angesteckt…Die Situation eskaliert.

[Marcel/ Möwen]
[Pit/ Messekoch]

3.Akt
Es kommt zu dem verhängnisvollen Beschluss: Susi muss weg! Marcel hat über Nacht alle vier Miss Marple- Filme studiert, um den perfekten Mord zu planen. Unabhängig davon, hat Elias sein Repertoire an Mörderrollen aktiviert und begonnen sich selbst auf seine Mordfähigkeit hin zu überprüfen. Am Frühstückstisch bekennen sie sich voreinander zu ihrem abartigen Vorhaben. Barbara und Pit, die an diesem Morgen trotz Durchfalls ihre Schichten antreten müssen, geben mehr oder weniger unbewusst ihr Einverständnis. Susi und Lou, der in der Küche eine Sintflut an leeren Bierflaschen hinterlassen hat, schlafen noch in Pits Zimmer.

4.Akt
Mordversuche scheitern: Marcel, der sich zum strategischen Leiter der Mission aufgeschwungen hat, plant zunächst die Vergiftung. Pit soll die beliebten Brownies für Susi mitbringen und mit einem geschmacksneutralen Gift versetzen. Aber da Susi das letzte Mal von den Brownies die Scheißerei bekommen hat, lehnt sie diese ab. Zunächst sind die Freunde etwas erleichtert, doch Marcel lässt nicht locker und stiftet den psychisch labilen Elias zu einem Komplott an. Susi soll als Statistin für eine Theaterrolle herhalten. Geprobt wird die Ermordung des Gretchens. Doch Elias bringt es nicht fertig, statt ihr die Halsschlagader durchzuschneiden verletzt er sie nur am Kinn, woraufhin er heftig Prügel von ihr bezieht und ihr in Notwehr ins Bein sticht.

[fehlt noch ein dritter Mordversuch]

5.Akt
Versöhnung, tragisches Ende: Susi steckt den Vorfall extrem cool weg. Sie tröstet die beiden unfähigen Mörder und verspricht bald wieder zu verschwinden. Sie wisse, dass sie alle genervt habe, aber sie hat keine Freunde, ist im Heim aufgewachsen, hat sich einfach gefreut mit jemandem eine Wohnung zu teilen, der sie nicht vergewaltigen oder beklauen möchte. Man ist gerührt, trinkt auf Versöhnung. Lou ist schon seit Tagen nicht ansprechbar im Biervollrausch. Barbara und Pit freuen sich über die Wende, alles läuft auf einen gemütlichen Abend hinaus, bis Susi unbemerkt zu den vergifteten Brownies greift…

Helmbrecht

Zwischen Kriminalisierung und Globalisierung –
die didaktische Intention Wernher des Gärtners im Märe Helmbrecht

1. Einleitung
Im Epimythion des Märe Helmbrecht wird sein Anspruch als Lehrdichtung unmissverständlich offenbar: „Swâ noch selpherrischiu kint/ bî vater unde muoter sint,/ die sîn gewarnet hie mite./ begânt sie Helmbrehtes site,/ ich erteile in daz mit rehte:/ in geschehe als Helmbrehte.“
Folglich beschäftigte sich auch bereits eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten damit, zum „Kern der Didaxe“ vorzudringen. Was in einer reichhaltig vorhandenen Forschungsliteratur resultierte, zeigt gleichzeitig die „Moden“ der Literaturwissenschaft auf, von denen die Forschungsgeschichte des Helmbrecht immer wieder beeinflusst wurde. Fritz Peter Knapp identifiziert Einflüsse der regionalen und nationalen Philologien, des Positivismus, Historismus, Nationalsozialismus, Marxismus, der werkimmanenten Betrachtungsweise, des Formalismus und Strukturalismus bis hin zur Textsemiotik und Textpragmatik. Die imposante Liste der Publikationen zum Helmbrecht und das fortwährende Interesse der Forschung an der einzigen erhaltenen Dichtung Wernher des Gärtners zeugen von der poetischen Güte des im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts entstandenen Werkes, die nicht zuletzt durch die zeitlosen Konfliktlinien und ihre möglichen Aktualitätsbezüge genährt wird.
Es wird aber auch deutlich, dass der Versuch der Rekonstruktion der didaktischen Intention Wernhers im Laufe der Forschungsgeschichte zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führte. „Es ist beinahe eine communis opinio der Forschung, dass es das Ziel des jungen Helmbrecht sei, Ritter zu werden“ . Ausgehend von dieser Annahme, wird die Erzählung teilweise als Kriminalisierung des sozialen Aufstiegswillens gedeutet — so unter anderem bei Schwob und Schindele —, den Wernher mit „alttestamentarischer Wucht“ niederschlägt. Bausinger spricht hingegen von einer „Globalisierung der Moral“, demzufolge „die Grundtendenz des Gedichts nicht etwa eine spezifische Moral anvisiert, sondern die allgemeinste, die man sich vorstellen kann: Gotteskindschaft“ .
Die vorliegende Arbeit will diese Argumentationen kritisch hinterfragen, die Gründe für das Scheitern Helmbrechts genau beleuchten und darstellen, welche reliablen Rückschlüsse auf die didaktische(n) Intention(en) Wernhers möglich sind. Dazu sollen im ersten Teil der Arbeit die für das Verständnis des Helmbrechts maßgeblichen Phänomene der sozialen Mobilität und des Verfalls der Ständeordnung anhand ausgewählter Textstellen erklärt und kontextualisiert werden. Die Spurensuche nach zeithistorischen Paradigmen der Recht- und Ordolehre soll die Einbettung des Märe in seine Entstehungszeit bewerten und interpretieren, besonders hinsichtlich möglicher Veränderungen im Wertesystem des Hochmittelalters.
Abschließend bleibt zu beurteilen, ob es tatsächlich der Versuch des Standeswechsels ist, den der Autor moralisch verurteilt, oder ob die didaktische Intention losgelöst von der sozialen Hierarchie des Mittelalters, Bauern- Adel- Klerus, zu verstehen ist.

2. Kriminalisierung sozialen Aufstiegswillens
2.1. Soziale Mobilität
Für die Datierung der Entstehungszeit der Versnovelle Helmbrecht stehen lediglich zwei intertextuelle Verweise zur Verfügung. Als untere Grenze dient der Tod des Dichters Neidhart, der in Vers 217 erwähnt wird („her Nîthart, und solde er leben“) und in den Zeitraum nach 1237 und vor 1246 einzuordnen ist, als obere Grenze eine Anspielung auf den Helmbrecht im XV. Gedicht des Seifried Helbling von 1291/99. Eine Datierung in die Zeit des Interregnums kann somit nicht sicher nachgewiesen werden, wird aber vielfach als wahrscheinlich angenommen. Zumindest sind die 20 Jahre „der kaiserlosen, der schrecklichen Zeit“ als maßgeblicher Einfluss anzunehmen, da sich in ihr ein Konflikt manifestiert, der ein Leitmotiv der Handlung ist: der hierarchische Unterschied zwischen zwei sozialen Gruppen, zwei mittelalterlichen Ständen; den Bauern und dem Adel.
Hier beginnt eine als gottgegeben empfundene Trennlinie aufzuweichen, im unverhohlen geäußerten Wunsch des jungen Helmbrecht, seinen Stand zu verlassen: (V. 226) „mîn wille mich hinz hove treit“. Dass am Ende seiner Ambitionen ein grausamer Tod steht, ist eine Besonderheit in der theozentrischen Lebensanschauung mittelalterlicher Dichtung, die „die Welt als Gottes vollkommene Schöpfung“ begreift, in der „Gott sein bestes Werk in ihr, den Menschen, in all seiner Sündhaftigkeit letztlich nicht verloren gehen lassen“ kann.
Wollte Wernher an Helmbrecht ein Exempel statuieren, ist die Erzählung als konsequente Kriminalisierung des sozialen Aufstiegswillens der Bauern zu verstehen? Gerhard Schindele verurteilt ganz richtig, dass die Erzählung „in der Regel als objektives Abbild gesellschaftlicher Realität rezipiert und nicht als deren teils bewusst parteiliche, teils das Bewusstsein von Autor und zeitgenössischem Publikum übersteigende Interpretation.“
Denn das Thema der sozialen Mobilität, das Verlassen des eigenen Standes, erfährt im Helmbrecht eine spezifische Ausgestaltung, die implizit noch andere gesellschaftliche Probleme darstellt, so etwa Kritik am Adel und am Gerichtswesen äußert.
„lieber sun, nû bouwe:/ jâ wirt vil manec frouwe/ von dem bûwe geschœnet,/ manec künec wirt gekrœnet/ von des bûwes stiuwer.“ (V. 553ff)
Diese beachtliche Rede des Meier Helmbrecht, die den Sohn von seinen Plänen abbringen soll, zeigt deutlich, dass im hohen Mittelalter ein gesellschaftlicher Veränderungsprozess einsetzt. Der wohlhabende Meier versteht seine Arbeit nicht mehr nur als „Teil des göttlichen Schöpfungsauftrages“ und Erduldung des irdischen Daseins als Strafe infolge des Sündenfalles, sondern als eine ehrenvolle Aufgabe, die „Vorraussetzung des Fortbestandes der gesamten Schöpfung“ ist und von der die Macht der Herrschenden abhängt. Ausdruck dieser neuerlangten Dignität bäuerlicher Arbeit ist das immer häufigere Streben wohlhabender Bauern (und Bürger) in den Ritterstand, der sich zu Beginn des Hochmittelalters noch nicht als Geburtsstand, sondern als Berufsstand begreift, als eine Gemeinschaft einfacher Krieger (ordo militaris), in die jeder aufsteigen kann, „der die immensen Kosten für Rüstung, Schwertleite und ein standesgemäßes Leben aufbringen“ kann.
Als Folge dieser Entwicklung, missgünstig betrachtet von den Angehörigen des höheren Adels, wird der Ritterstand rechtlich abgeschlossen und als Geburtsstand mit elitärem Charakter definiert. Angehörige des niederen Adels, die sich die hohen (und durch die Konkurrenz mit dem reichen Bürgertum immer höher steigenden) Kosten der höfischen Lebensweise nicht mehr leisten können, „verbauern“ oder werden zu Raubrittern, auch weil ihnen durch die zunehmende Landflucht der Bauern die Einnahmequelle versiegte. Hingegen gelingt es vielen Bauern, die es zu Wohlstand gebracht haben, trotz der von Friedrich II. erlassenen Gesetze, in den Adelsstand aufzusteigen. Der einst einheitliche Stand, der ordo militaris, teilt sich auf in das genus nobile (höherer Adel) und das genus militaris (niederer Adel).
Dass Helmbrecht und Gotelint versuchen, sich eine adelige Abkunft nachzuweisen, deutet darauf hin, dass in der Entstehungszeit der Erzählung der Ritterstand schon rechtlich abgeschlossen gewesen sein muss, und ihnen theoretisch nicht mehr die Möglichkeit gegeben ist, sich in den Ritterstand einzukaufen.

2.2. Verfall der Ständeordnung
Die Schilderung, die Helmbrecht dem Vater bei seiner ersten Rückkehr nach Hause vom Leben bei Hofe gibt, zeugt von einem Lebensstil des genus militaris, der keinerlei höfischem Ideal mehr entspricht (V.985ff):
„daz sint nû hovelîchiu dinc:/ ‚trinkâ, herre, trinkâ trinc!/ trinc daz ûz, sô trinc ich daz!/ wie möhte uns immer werden baz?’/ vernimm waz ich bediute:/ ê vant man werde liute/ bî den schœnen frouwen,/ nû muoz man si schouwen/ bî dem veilen wîne./ daz sint die hœhsten pîne/ den âbent und den morgen,/ wie si daz besorgen,/ ob des wînes zerinne,/ wie der wirt gewinne/ einen der sî alsô guot,/ dâ von si haben hôhen muot./ daz sint nû ir brieve von minne:/ ‚vil süeziu lîtgebinne,/ ir sult füllen uns den maser!’/ ein affe und ein narre waser,/ der ie gesente sînen lîp/ für guoten wîn umbe ein wîp./ swer liegen kann der ist gemeit,/ triegen daz ist hövescheit./ er ist gefüege, swer den man/ mit guoter rede versnîden kann./ swer schiltet schalclîche,/ der ist nû tugentrîche./ der alten leben, geloubet mir,/ die dâ lebent alsam ir,/ die sint nû in dem banne/ und sint wîbe und manne/ ze genôze alsô mære/ als ein hâhære./ âht und ban daz ist ein spot.“
Helmbrecht beschreibt die „völlige Umkehrung aller Werte“, die den Ritterstand noch vor einer Generation ausgezeichnet haben, wie die Schilderung (V.913-973) „des vollendet tugendhaften höfischen Lebens“ durch den Meier beweist, den sein Vater (V.916f) „hin ze hove het gesant/ mit kaesen und mit eier“.
Der relative Wohlstand, den der Meier Helmbrecht erlangt hat, und die Selbsterkenntnis der Wichtigkeit und Würde seiner Arbeit zeugen von einem emanzipierten Bauernstand. Ihm steht das entwurzelte Personal eines (Teil des) Ritterstandes gegenüber, den Wernher als moralisch verfallen zeichnet, negativ konnotiert in jedem Detail. Wenn hier also von einem Verfall der Ständeordnung gesprochen wird, dann referiert das nicht auf die bloße Existenz der personellen Interaktion zwischen den Ständen, sondern auf die Art, wie Wernher die beiden in der Handlung auftretenden ordines darstellt. Volker Honemann widerspricht deshalb der neueren Forschung, die im Helmbrecht die Kriminalisierung des Aufsteigers durch den Autor Wernher zu sehen meint. Plausibler erscheint, „dass der junge Helmbrecht weit eher ein Aussteiger denn ein Aufsteiger ist. Seine Ziele sind von Anfang an unehrenhaft, ja verbrecherisch. […] Mehrfach betont er, dass es seine Absicht sei und ihm Freude bereite, zu plündern, zu rauben und seinen Opfern Gewalt anzutun“ (V. 379: „ich wil rouben alle tage“).

3. Globalisierung der Moral
Die Beschränkung auf eine singuläre identifizierbare moralisch-didaktische Intention des Dichters kann dem „fraglos hohe(n) literarische(n) Wert“ des Werkes nicht gerecht werden. Dass Wernher den Willen des jungen Helmbrechts, aus der ihm zugewiesenen Rolle innerhalb des Ständegefüges auszubrechen, verurteilt, soll hier nicht in Frage gestellt werden. Doch Wernhers Kritik an der Gesellschaft ist mehrdimensional: Helmbrecht verweigert seinen Eltern den Gehorsam, er leugnet seinen Geburtsstand, und verstößt gegen die „gottgegebene Ordnung, welche sich in der patriarchalisch geleiteten Familie, der hierarchisch gestufte Gesellschaft und dem vom Landesherrn zu gewährleistenden Zustand des Rechts und Friedens manifestiert.“
Georg Steer stützt die These, dass die Thematik des Ständewechsels nicht vordergründig erscheint. Die Ständeordnung selbst steht für den Autor zu keiner Zeit zur Disposition, sie ist selbstverständlich für einen mittelalterlichen Menschen, der ohne Bewusstsein für Geschichtlichkeit alles Leben und Sein als gottgegründet und gottgewollt versteht. Veränderungen innerhalb des Ständegefüges sind deshalb nicht unmöglich, wie die Betrachtungen zum Thema soziale Mobilität gezeigt haben, ein Aufbegehren gegen Gottes Gesetze jedoch ist religiöser Frevel und Sünde. Konsequenterweise erfährt Helmbrecht deshalb auch für jede Sünde, die er begeht, eine Bestrafung. Nichts bleibt ungesühnt.
Dass Wernher zugunsten der strengen Symmetrie Sünde – Strafe die Rechtswirklichkeit seiner Zeit verzerrt darstellt, beschreibt vorzüglich Petra Menke. Die Beschreibung des Gerichtsverfahrens, der ungewöhnlich harten, zur Entstehungszeit des Helmbrecht schon nicht mehr üblichen Strafen und der implizite Vorwurf der Bestechlichkeit der Richter (V.1673-1678) weisen darauf hin, dass Wernher die reale Gerichtsbarkeit als unzureichend empfand. Steigende Kriminalität war scheinbar ein Problem, dem sich das Gerichtswesen nicht schnell genug anpasste, weshalb Helmbrechts gewaltvolle Karriere erst durch den Schergenbann gestoppt werden konnte. Der Scherge tritt hier als ein Bote — oder gar Stellvertreter — Gottes auf, dem übernatürliche Kräfte gegeben sind (V.1639-1650):
„got ist ein wunderære,/ daz hœret an dem mære./ slüege ein diep al eine ein her,/ gein dem schergen hât er keine wer:/ als er den von verren siht,/ zehant erlischet im daz lieht,/ sîn rôtiu varwe wirt im gel;/ swie küne er wære und wie snel,/ in væht ein lamer scherge./ sîn snelheit und sîn kerge/ die sint im alle gelegen,/ sô got der râche will selbe phlegen.“
Die unrealistische Darstellung des Gerichtsverfahrens und der Verhaftung Helmbrechts wird gelegentlich mit juristischer Unkenntnis Wernhers erklärt. Wahrscheinlicher ist aber, dass die eindringliche Mahnung zu einem gottgefälligen Leben und zur Wahrung des Friedens im mittelalterlichen Verständnis nur dann schlüssig ist, wenn ihr eine funktionierende Rechtsordnung zu Grunde liegt. Wernher muss hier Gott in Person des Schergen auftreten und den Friedensstörer aufhalten lassen, weil der mit der Friedenssicherung beauftragte Landesherr seiner Aufgabe nicht mehr nachkommt.

4. rehte tuon – Avaritia
Dem Verhältnis des jungen Helmbrecht zu seinem Vater wird in der Erzählung ganz offensichtlich ein viel größerer Stellenwert eingeräumt als der Ständeproblematik. Die Handlung ist, bis auf wenige Verse, auf dem Hof des Meiers situiert. Was Helmbrecht außerhalb des heimischen Hofes erlebt, wird in extrem geraffter Erzählzeit berichtet. So stehen einem Jahr Raubritterleben, erzählt in 43 Versen (653-696), 758 Verse (697-1455) gegenüber, die über die erste Rückkehr Helmbrechts nach Hause berichten, welche lediglich eine Woche umfasst.
Auch der ungefähr gleich große Redeanteil des Vaters unterstreicht seine herausragende Bedeutung. Wernher stellt hier zwei völlig verschiedene Charaktere gegenüber, die nicht nur demselben Stand, sondern sogar derselben Familie entstammen. Ihr Verhältnis könnte kaum enger sein: Sie sind Vater und Sohn. Entlang der „thesenhaften Kontrastierung und erzählerischen Exemplifizierung zweier Lebensformen, der Lebensform des rehte tuon und der Lebensform der Avaritia“ , ist folglich auch die moralische Intention Wernhers zu verstehen. Tugend ist weder vererbbar, noch an Standeszugehörigkeit gekoppelt, sie ist ein individueller Wert. Das Gegenüber von ‚rehte tuon’ und ‚unrehte tuon’ des Einzelnen legt als Bewertungsmaßstab zwar die Auswirkung auf die Gemeinschaft an, hat als Bezugspunkt jedoch immer die Gnade Gottes, ein Wert dessen Erhalt die wichtigste Tugend ist.
Worauf es dem Vater im Leben ankommt, beschreibt er in den Versen 253-258: „ich bin getriuwe, gewære,/ niht ein verrâtære; darzuo gibe ich alliu jâr/ ze rehte mînen zehenden gar:/ ich hân gelebet mîne zît/ âne haz und âne nît.“
Helmbrecht verleugnet seine Abstammung, denn der Weg, auf dem es der Vater zu hohem Ansehen gebrach hat, durch harte Arbeit, Ehrlichkeit und Bescheidenheit, ist ihm zu beschwerlich, er strotzt vor Hochmut: (V.268ff) „sô sollt mich got gehazzen,/ swenne ich dir ohsen wæte/ und dînen habern sæte“. Der Wohlstand des Vaters, der ihm ein sorgenfreies Leben garantiert, ist ihm nicht genug: Trotz der prächtigen Ausstattung, die ihm seine Familie bereitstellt, beklagt er sich über die Armut des Bauernlebens. Auch seine Eitelkeit ist grenzenlos: (V.271-278) Er kann sich seine Schönheit selbst nur damit erklären, dass er adliger Abstammung sei. Helmbrecht behauptet deshalb (und auch Gotelind), seine Mutter habe während der Schwangerschaft außerehelichen Beischlaf mit einem Ritter gehabt, was nach mittelalterlichen Glauben „Einfluss auf die Entwicklung der Leibesfrucht habe“ : (V.1374ff)
(Helmbrecht:) „dô mich mîn muoter hêt getragen/ fünfzehen wochen,/ dô kom zuo ir gekrochen/ ein vil gefüeger hovemann;/ von dem erbet mich daz an/ […] Dô sprach sîn swester Gotelint:/ jâ wæne ouch ich daz ich sîn kint/ von der wârheit iht ensî./ ez lac mîner muoter bî/ geselleclîche ein ritter kluoc,/ dô si mich in dem barme truoc.“
Diese Äußerungen „dokumentieren psychologisch den Hochmut und die Rücksichtslosigkeit der Kinder“ und Bausinger sieht darüber hinaus in dem Verstoß gegen das 4.Gebot nicht nur die Abkehr vom leiblichen Vater, sondern auch die Abkehr von Gott. Diesen Frevel, den Verzicht auf die Gnade Gottes durch Ungehorsam und Hochmut, begeht Helmbrecht auf drei verschiedenen Ebenen: neben der beschriebenen Störung der Familienordnung und der Störung der Ständeordnung, scheint sein schwerster Verstoß die Störung des Friedens zu sein. Denn letztlich wird er von den Bauern, denen er Leid angetan hat, aufgeknüpft, und erst dann ist wieder „…fride,/ sît Helmbreht ist an der wide.“ (V.1921f)

5. Schlussbetrachtung
Hermann Bausinger weist darauf hin, „dass der Dichter Wernher nicht mehr in einer und für eine Gesellschaft spricht, in der jedem einzelnen sein endgültiger Stand […] zugewiesen ist“ . Er betrachtet und bestraft in der Erzählung die Taten des Einzelnen, unabhängig — aber nicht losgelöst — von einem Ordo- Gedanke, der der tatsächlichen Gesellschaftsordnung immer weniger entspricht. Diese Denkweise wird an dem Gleichnis, das der Vater dem Sohn erzählt, deutlich: (V.495)
„ein frumer man von swacher art/ und ein edel man, an dem nie wart/ weder zuht noch êre bekannt,/ und koment die bêde in ein lant/ dâ niemen weiz wer si sint,/ man hât des swachen mannes kint/ für den edelen hôchgeborn/ der für êre hât schande erkorn./ sun, und wilt dû edel sîn,/ daz rât ich ûf die triuwe mîn,/ sô tuo vil edellîche“
Das bestehende Ständegefüge, von Gott geschaffen, ist nur eine der Rechtsordnungen, gegen die Helmbrecht verstößt. Aus dem Helmbrecht eine Ständelehre ableiten zu wollen, oder die Kriminalisierung des sozialen Aufstiegswillens als Wernhers moralische Intention auszumachen, scheint mir weit über das Verständnis des Textes hinauszugehen. Auch eine Rechtslehre ist nicht zu extrahieren, da Wernher die bestehende Rechtswirklichkeit zwar implizit kritisiert, sie aber nicht explizit thematisiert, sondern in künstlerischer Überhöhung modifiziert und verzerrt darstellt.
Die These der Globalisierung der Moral hat noch am meisten für sich, da sie keine spezifische Moral herausarbeiten möchte, sondern die „Gotteskindschaft, das Bekenntnis zur Bindung an Gott“ , als den Bezugspunkt aller Gesellschaftskritik im Helmbrecht identifiziert. Allerdings ist daran keine spezielle Lehre von Gott, eine Theologie auszumachen. Eine erhellende Deutungsperspektive zeigt hingegen Hannes Kästner auf, der die Ähnlichkeiten der Helmbrecht-Erzählung mit den Bußpredigten des Franziskaners Berthold von Regensburg unter dem Aspekt der Friedenswahrung betrachtet. Jegliches reht findet demzufolge seine letzte Begründung im fride, und der fride gilt als göttliches Schöpfungsgesetz. Im Epimythion (V.1913-1934) wird der Begriff zweimal erwähnt: als der Zustand, der durch „Helmbrehtes site“ unheilvoll gestört wurde, und, an zweiter Stelle, als Zustand, dessen Störung durch Erhängen bestraft wird.
Die „Durchsetzung von Friede und Recht als Haupttendenz der Erzählung“ scheint mir, wenn auch allgemein gehalten, die didaktische Intention des Autors am treffendsten zu beschreiben. Der Erhalt des Friedens setzt die Tugend des Einzelnen voraus, die Gesetze einzuhalten, die die Gnade Gottes bedingen. So könnte man rehtes tuon definieren, das am Leben des Meiers Helmbrecht exemplifiziert wird. Hochmut, Superbia, Hybris, Avaritia — wie auch immer man Helmbrechts Verstöße gegen die Rechtsordnung, also Gottes Ordnung, bezeichnet, man kann das Verhalten des jungen Antihelden als daz übele tuon generalisieren. Einen der Verstöße speziell und isoliert zu betrachten, hat deshalb keine erklärende Kraft.
„’Wê daz dich dîn muoter getruoc’./ sprach der vater zuo dem sun./ ‚du wiltz beste lân undz bœse tuon.“ (V.516-518)
In dieser Dualität zeigt Wernher der Gärtner, mit allen Konsequenzen, welcher Lebensweg richtig ist, und welcher nicht. „Der formulierte Gegensatz zwischen ‚Gut’ und ‚Böse’-Handeln findet sich […] fast wörtlich wieder“ in der Eingangspredigt der Sammlung deutscher Predigten Berthold von Regensburgs, „gleichsam als ein Grundsatzprogramm“ : „tuo daz guote unde lâ daz übele“

6. Verwendete Literatur
6.1. Primärliteratur
Wernher der Gartenære: Helmbrecht. Hrsg. von Friedrich Panzer und Kurt Ruh, 10. Aufl.
besorgt von Hans Joachim Ziegeler, Tübingen 1993 (Althochdeutsche Textbibliothek 11).
Wernher der Gärtner: Helmbrecht. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt
und erläutert von Fritz Tschirch, 4.Aufl., Stuttgart 2007.

6.2. Sekundärliteratur
Bausinger, Hermann: Helmbrecht. Eine Interpretationsskizze. In: Festschrift für Hugo
Moser zum 65.Geburtstag. Hrsg. von Werner Besch [u.a.], Berlin 1974, S. 200-215.
Honemann, Volker: Gesellschaftliche Mobilität in den Dichtungen des Mittealters. In:
Zwischen Nicht-Adel und Adel. Hrsg. von Kurt Andermann und Peter Johanek, Stuttgart 2001, S. 27-49.
Kästner, Hannes: ‘Fride und Recht’ im ‘Helmbrecht’: Wernhers Mære im Kontext
zeitgenössischer Franziskanischer Gesellschafts- und Ordnungsvorstellungen. In: Wernher der Gärtner: ‘Helmbrecht’. Die Beiträge des Helmbrecht-Symposions 2001. Hrsg. von Theodor Nolte und Tobias Schneider, Stuttgart 2001, S. 25-45.
Knapp, Fritz Peter: Wernher der Gärtner. In: Verfasserlexikon. Zweite völlig neu
bearbeitete Aufl., Berlin und New York 1978-1999, Bd.10, Sp.927-936.
Menke, Petra: Recht und Ordo-Gedanke im Helmbrecht. Frankfurt am Main 1993.
Schindele, Gerhard: Helmbrecht. Bäuerlicher Aufstieg und landesherrliche Gewalt. In:
Literatur im Feudalismus. Hrsg. von Dieter Richter, Stuttgart 1975, S. 131-211.
Schwob, Anton: Die Kriminalisierung des Aufsteigers im mittelhochdeutschen Tierepos
vom ‚Fuchs Reinhart’ und im Märe vom ‚Helmbrecht’. In: Zur gesellschaftlichen Funktionalität mittelalterlicher deutscher Dichtung. Hrsg. Von Wolfgang Spiewok, Greifswald 1984, S.42-67.
Seelbach, Ulrich: Späthöfische Literatur und ihre Rezeption im späten Mittealter.
Studien zum Publikum des ‘Helmbrecht’ von Wernher dem Gartenære. Berlin 1987.
Steer, Georg: Rechtstheologische Implikationen der Helmbrecht Dichtung Wernhers des
Gartenære. In: Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. Würzburger Colloquium 1978. Hrsg. von Volker Honemann [u.a.], Tübingen 1979, S.239-250.

Manufacturing Consent

Noam Chomskys Propagandamodell.
Warum die Nachrichten manchmal lügen.

1. Einleitung
Nach einer kurzen aber umso schmerzlicheren Zeit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ist ein weitgehender Konsens in der westlichen industrialisierten Welt darüber entstanden, dass das Volk regieren soll, also alle Bürger eines Staates, repräsentiert von einer gewählten Regierung.
Die absolute Herrschaft einiger Weniger, nenne man sie Monarchie, Aristokratie, Oligarchie, Diktatur, Tyrannei oder wie auch immer, scheint ein Verdikt der Vergangenheit zu sein, das sich nicht mehr mit unserem Politikverständnis, mit unseren Grundrechten und unserer Individualität vereinbaren lässt.
Damit hat jeder Staatsbürger auch eine Verantwortung übernommen, denn der Prozess der politischen Willensbildung obliegt nun jedem selbst. Diese Willensbildung erfolgt durch den Bezug von Informationen aus verschiedenen Medien. Deshalb ist es „ein demokratisches Postulat, dass die Medien unabhängig und zu objektiver und wahrheitsgemäßer Berichterstattung verpflichtet sind.“
Noam Chomskys politisches Engagement ist unter anderem darum bemüht, aufzudecken, dass die Medien diesen unabhängigen Status verloren haben und zu häufig dem Zweck dienen, „Unterstützung für die ökonomischen, sozialen und politischen Interessen privilegierter Gruppen [zu erreichen, C.G.] die die Wirtschaft dominieren und daher zum größten Teil auch die Regierung kontrollieren.“
Das Propagandamodell von Noam Chomsky, das die Beeinflussbarkeit der Medien am Beispiel der USA analysiert, soll nachfolgend vorgestellt werden. Es dechiffriert die Mechanismen der Gedankenkontrolle und deckt die Verflechtungen zwischen Medien, Wirtschaft und Regierung auf. Chomskys These, dass die Medien ein falsches Bild der Realität vermitteln, insbesondere über die amerikanische Außenpolitik, soll dabei erörtert werden, wobei der Abschnitt über seine Kritik an der Kriegsberichterstattung einen Einblick in die breite empirische Basis gibt, auf die Chomsky seine Thesen baut. Als Einleitung in sein Denken soll die Fragestellung des „Orwellschen Problems“ dienen: „Wie kommt es, dass wir – als Bürger einer demokratischen Gesellschaft – so wenig wissen, obwohl wir doch im Prinzip über so viele Informationen verfügen?“
In der Philosophie, Psychologie und Linguistik verbindet sich eine gleichermaßen spektakuläre Wirkung mit seinen Schriften. Durch die Kompromisslosigkeit seiner Äußerungen und seinen „moralischen Rigorismus“ hat er sich allerdings auch oft heftigen Anfeindungen aussetzen müssen. Abschließend soll hier erläutert werden, wie sich seine politischen Schriften in sein Gesamtwerk einordnen lassen und welches Menschenbild ihnen zugrunde liegt.

2. Propagandamodell

2.1. Orwells Problem
Das Propagandamodell entwickelte Noam Chomsky 1988 zusammen mit dem Wirtschaftswissenschaftler Edward S. Hermann. Es wurde veröffentlicht in dem Buch „Manufacturing Consent“, dessen Titel sich auf den von Walter Lippmann geprägten Ausdruck „to manufacture consent“ – Konsens herstellen, bezieht. Lippmann war einer der einflussreichsten politischen Journalisten der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und Assistent von Woodrow Wilson bei der Ausarbeitung des 14- Punkte- Programms. Er beschreibt in seinem Buch „Public Opinion“, dass Propaganda ein reguläres Organ der Regierung sei, mit dessen Hilfe eine Elite („specialized class of responsible men“) den Willen der Masse der Bevölkerung lenkt, die er als „wilde Herde“ bezeichnet, und die zu dumm sei, eine Meinung zu entwickeln, die dem Wohl des Staates dient.
Lippmanns Meinung und das daraus resultierende Verständnis über die politische Unmündigkeit des Großteils der Bürger und Konzentration der Macht in einer schmalen Oberschicht hat eine lange Tradition: er beruft sich explizit auf Platon, dessen Höhlengleichnis er neu interpretiert, und ähnliche Äußerungen finden wir bekanntlich auch bei Harold Lasswell, John Jay, Charles de Montesquieu und Reinhold Niebuhr, um nur ein paar zu nennen.
Mit dem Aufkommen der modernen Medien hat die Möglichkeit der Manipulation der Meinung eine neue Qualität erfahren. Chomskys Propagandamodell beschreibt, wie die Massenmedien in den USA dieser Vorstellung der politischen Willensbildung dienen, und sich die Gesellschaft somit letztendlich wieder totalitären Strukturen annähert, ohne das Einschränkungen der Meinungsfreiheit, Ausübung oder Androhung von Gewalt nötig sind.
Der Autor des Romans ‚1984’, „George Orwell, war, wie viele Intellektuelle Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, begeistert von der Fähigkeit totalitärer Systeme, der Bevölkerung Überzeugungen einzuimpfen, die offenkundig den Tatsachen widersprachen.“ Was Chomsky als „Orwells Problem“ bezeichnet ist die Tatsache, dass es in Ländern, in denen die Medien unter dem Monopol staatlicher Kontrolle stehen und eine offizielle Zensur besteht, leicht nachzuweisen sei, dass sie die Interessen der Eliten bedienen. In den USA brüsten sich die Medienvertreter allerdings regelrecht damit, Fürsprecher der freien Meinungsäußerung zu sein und decken auch regelmäßig Missstände in der Regierung oder der Wirtschaft auf. Chomsky verweist an dieser Stelle, dass es keinerlei offizielle Einschränkung der Pressetätigkeit gibt, und dass viele Journalisten durchaus in dem Bestreben arbeiten, objektive Berichterstattung zu leisten.

2.2. Die fünf Filter
Wie erreichen aber nun die „Privilegierten“ (im Sinne Lippmanns), dass ihre Sicht der Dinge in den Medien dargestellt wird beziehungsweise dass sich die öffentliche Meinung so bildet, dass sie ihren Interessen dient?
Chomskys Argumentation lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Natürlich können sie nicht einfach zu den Medien gehen und ihnen persönlich vorschlagen was sie drucken oder sagen sollen. Stattdessen bieten sie Privilegien und Anreize für diejenigen, die den in der Oberschicht hergestellten Konsens verbreiten. Die Medienvertreter, die im Sinne der Mächtigen im Land berichten, können also damit rechnen, dafür belohnt zu werden, wenn sie nicht entgegen dem Interesse der „specialized class“ berichten, oder anders betrachtet: sie müssen mit Nachteilen rechnen, sollten sie nicht im Sinne der Mächtigen berichten.
Oder es sind die Mächtigen selbst, als Besitzer der Medienunternehmen, die entscheiden was gesendet wird und was lieber nicht, ob etwas umformuliert, in einem anderen Zusammenhang gebracht, übertrieben oder heruntergespielt wird.
Dadurch wird der Informationsfluss einseitig reguliert, was die Unwissenheit der Masse der Bevölkerung begründet, die auf die Objektivität der Berichterstattung vertraut, da sie nicht die Möglichkeit hat selbst Nachforschungen anzustellen. Das Propagandamodell besteht aus fünf Filtern, „die die Nachrichten für die Öffentlichkeit beschränken und garantieren, dass die Medien die Sicht des ‚Big Business’ verbreiten.“ Das Modell ist spezifisch am Beispiel der USA entwickelt, ist aber, laut Chomsky, auf alle Interaktionen der Massenmedien in demokratischen industrialisierten Staaten anwendbar. Nachfolgend werden die fünf Filter einzeln vorgestellt. In dieser Singularität ist das eine Konstruktion, die einzig der Explikation dient. Ihr Wirken bedingt sich dagegen aus der gegenseitigen Verschränkung miteinander und der Abhängigkeit voneinander.

2.2.1. Größe, Besitzer und Profitorientierung der Massenmedien
Der Prozess der Globalisierung hat auch die Medienlandschaft in den letzten dreißig Jahren nachhaltig verändert. Durch Fusionen und Übernahmen sind aus den rund fünfzig großen Firmen, die noch Anfang der 1980er Jahre die Massenmedien dominierten, neun transnationale Konglomerate entstanden (Disney, AOL Time Warner, Viacom, News Corporation, Bertelsmann, General Electric, Sony, AT&T Media und Vivendi Universal).
Diese Unternehmen besitzen fast alle Filmstudios, TV- und Radiosender, Musikunternehmen, sowie Zeitungs-, Zeitschriften-, Bücherverlage und Internetportale, sodass man von einer Monopolisierung der Berichterstattung sprechen kann. Der Einstieg in das Nachrichtengeschäft ist nur noch möglich wenn man die finanzielle Möglichkeit hat, mit diesen Firmen mitzuhalten, was konkret die Notwendigkeit enormen Reichtums erfordert.
Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass sie nicht nur Nachrichten produzieren, sondern auch die Unterhaltungsbranche bedienen und als Privatunternehmen natürlich ein Interesse an Gewinnmaximierung haben. So schwinden die Grenzen zwischen Werbung, Unterhaltung und Nachrichten, die sich immer mehr mit „Lifestyle“ Themen und Produkten auseinandersetzen. Die Kommerzialisierung der Nachrichten hat zur Folge, dass sie das Interesse der Zuschauer/ Zuhörer/ Leser von politischen Kontroversen ablenkt und in den Subraum des Sensationalismus abschiebt, in dem vor allem Sport, Sex und Gewalt die Themen sind, und die Produkte des Unternehmens angeboten werden können. „Das bedeutet nichts anderes, als dass die Gesamtbevölkerung in ihre traditionelle Apathie und ihren traditionellen Gehorsam zurückgedrängt und aus der Arena der politischen Debatte und des politischen Handelns vertrieben [wird…, C.G.].“
Die Besitzer von Medienkonglomeraten können durch ihre große wirtschaftliche Macht zwischen ihren gemeinsamen Interessen mit anderen großen Firmen, Banken und der Regierung vermitteln. Es entsteht ein Meinungsmonopol, das vor allem ökonomischen Interessen zu dienen hat und vereinheitlichte kulturelle und moralische Wertvorstellungen produziert, auf deren Basis sich die Reflexion über tagespolitische Ereignisse marginalisiert.

2.2.2. Werbung als primäre Einkommensquelle
Bevor die Werbung „erfunden“ wurde, musste der Preis einer Zeitung die Kosten ihrer Produktion decken. Durch den Anzeigenverkauf überstiegen die Gewinne die Kosten der Herstellung bald um ein vielfaches, wodurch die Preise gesenkt werden konnten. Dies hatte wiederum zur Folge, dass Zeitungen, die auf Werbung verzichteten, aufgrund des höheren Preises in der Bedeutungslosigkeit verschwanden. Die Times etwa bezieht inzwischen siebzig Prozent ihrer Einnahmen aus der Werbung und nur etwa dreißig Prozent aus dem Verkauf von Abonnenments oder dem Absatz im Tagesgeschäft.
Damit setzte ein entscheidender Wandel ein: nicht mehr die Wahl des Lesers entscheidet über Reichtum und Überleben eines Zeitungsverlages, sondern die der Werbekunden.
Folgendes Beispiel soll die Funktionsweise des zweiten Filters illustrieren: der öffentliche TV- Sender WNET verlor seinen Hauptsponsor Gulf & Western, nachdem er eine Dokumentation mit dem Titel „Hungry for Profit“ ausgestrahlt hatte, indem die Rolle multinationaler Unternehmen in Dritte- Welt- Ländern kritisch hinterfragt wurde. Gulf & Western beklagte sich darüber, der Beitrag wäre antiamerikanisch gewesen und würde nicht dem Verhalten eines Freundes des Unternehmens entsprechen. WNET hatte daraufhin lange mit dem Überleben zu kämpfen, und der Londoner Economist schrieb: „Most People believe that WNET would not make the same mistake again.“
Die Abhängigkeit der Medien von den Einnahmen aus Werbeanzeigen und, daraus resultierend, von den Einschaltquoten ermöglicht der Werbeindustrie „eine Kontrollfunktion, […] die für die eigenen ökonomischen und ideologischen Interessen genutzt wird.“

2.2.3. Abhängigkeit der Medien von Informanten aus Politik und Wirtschaft
Eine weitere Abhängigkeit beschreibt der dritte Filter, indem er darauf hinweist, dass die Massenmedien eine enge Beziehung zu offiziellen Informationsquellen pflegen und die gelieferten Fakten oft unreflektiert verarbeiten. Chomsky gibt dafür im Wesentlichen Gründe des ökonomischen Haushaltens und Rekurse auf die ersten beiden Filter an: die oben erwähnten Beziehungen der Medienbesitzer zu Regierungskreisen etwa, die wiederum für die staatlichen Informationsquellen verantwortlich sind und natürlich auf eine positive Außendarstellung des politischen ‚Outputs’ bedacht sind, der dann ohne kostspielige investigative Hinterfragung als ‚Input’ in den Redaktionen abgeschrieben wird.
Die staatlichen Institutionen, die sich mit der Öffentlichkeitsarbeit beschäftigen und ihre erarbeiteten Berichte, Beiträge und Filme anderen Medien zur Verfügung stellen, sogar direkt zuschicken, bezahlen mehr Mitarbeiter und haben ein weitaus größeres Budget als alle Zeitungen. So beschäftigte zum Beispiel allein die Air Force im Jahre 1968 stolze 1305 Vollzeitangestellte in der Öffentlichkeitsarbeit, die im Zeitraum von 1969- 1979 Beiträge in 140 Zeitungen, 34 Radiosendern und 17 TV- Stationen unterbrachten, sowie 6600 Interviews mit Nachrichtenmedien führten und 3200 Pressekonferenzen veranstalteten. Aufgrund ihres Status’ und Prestiges wird die Glaubwürdigkeit solcher Informanten nicht in Frage gestellt. Ein weiterer Grund schlägt wiederum eine Brücke zum zweiten Filter. Denn durch die Verschiebung der Haupteinnahmequelle zugunsten der Werbung, verschieben sich auch die Aufgaben der Beschäftigten eines Medienunternehmens. So arbeiten immer weniger Journalisten in den Redaktionen und immer mehr Fachleute an der Entwicklung von Werbestrategien.
Da gleichzeitig immer neue Nachrichten gebraucht werden, die Kosten für den Informationsbezug aber gesenkt werden sollen, konzentriert sich die Berichterstattung auf die Orte, an denen die meisten Informationen fließen. Dazu gehören etwa die Pressekonferenzen im Weißen Haus und Pentagon, oder auf lokaler Ebene Polizeistationen und Bürgermeisterämter, in denen dann eben jene ‚offiziellen Informationen’ verteilt werden.
Chomsky beschreibt die Lieferung von Informationen an die Presse als Strategie, die schon während des Ersten Weltkrieges entwickelt wurde, um die Propaganda zu koordinieren: „The Commitee on Public Information […] discovered in 1917- 18 that one of the best means of controlling news was flooding news channels with ‚facts’, or what amounted to official information.“

2.2.4. „Flakfeuer“
Das Beispiel des TV- Senders WNET der seinen Hauptsponsor verlor, nachdem er zu kritisch über Großunternehmen berichtet hatte (siehe 2.2.2.), kann ebenso gut die Funktionsweise des vierten Filters illustrieren. Er benennt die Beschränkung oder Aussortierung kritischer Stimmen in der Berichterstattung, durch direkte oder indirekte Beschwerden der Kritisierten und Bestrafung der Kritisierenden.
Direktes „Flakfeuer“ oder Maßregelung der Medien kann in Form von Beschwerden durch Briefe, Telegramme, Anrufe, Petitionen, Klagen und Bedrohungen von Einzelpersonen oder Gruppen mit großem Machteinfluss erfolgen. Im Falle des Fernsehsenders zog die nicht im Interesse des Unternehmens Gulf & Western gelegene, kritische Berichterstattung erhebliche finanzielle Konsequenzen nach sich. Der Journalist, der für den Beitrag verantwortlich zeichnete, wurde bestraft, indem die Darstellung seiner Meinung beinah zum Bankrott seines Arbeitgebers geführt hatte.
Maßnahmen die Chomsky als indirektes „Flakfeuer“ bezeichnet, sind etwa: Beschwerden der Mächtigen bei ihren Aktionären oder Angestellten über die antiamerikanische Verhaltensweise der Medien, die den Unternehmen schade, oder durch politische oder werbeinitiierte Kampagnen mit ähnlichen Aussagen. Die ‚Wirtschaftsgemeinschaft’ habe die Misskreditierung der Medien sogar institutionalisiert, indem sie das Wachstum von Unternehmen finanziert, deren spezifischer Zweck es sei, das beschriebene „Flakfeuer“ zu produzieren.
Eine dieser Institutionen ist etwa die Firma Accuracy in Media (AMI), die 1969 mit einem jährlichen Einkommen von $5000 ihre Arbeit aufnahm, und 1980 ungefähr $1,5 Millionen an Spenden durch Großunternehmen erhielt. Chomsky beschreibt die Funktion von AMI, hier stellvertretend für weitere vergleichbare Firmen vorgestellt, folgendermaßen: „The function of AMI is to harass the media and put pressure on them to follow the corporate agenda and a hard- line, right- wing foreign policy.“ Dies erreiche AMI zum Beispiel dadurch, dass sie, getarnt als Diskurs über mehr „Fairness“ in der Berichterstattung, öffentlich von den Medien verlangen, enthusiastischer die Ehrbarkeit und moralische Lauterkeit der Ziele amerikanischer Außenpolitik darzustellen
Sehr aufschlussreich ist die sich daran anschließende politische Debatte über die „Demokratisierung der Medien“, in der die Verantwortung der Medien nicht durch das in der Einleitung beschriebene Postulat gekennzeichnet ist, sondern es ihre Aufgabe sei, höheren Interessen der Gesellschaft und des Staates zu dienen. Für genauere Ausführungen zu dem Pseudodiskurs über ein „Übermaß an Demokratie“ , sei hier auf den Aufsatz „Demokratie und Medien“ in Noam Chomskys Buch Notwendige Illusionen verwiesen. Eine symptomatische Äußerung für das, was Chomsky als indirektes Flakfeuer bezeichnet, ist aus jener Debatte entnommen, und soll die Vorstellung des vierten Filters abschließen:
Der neue Journalismus sei „von einer oft hirnlosen Bereitschaft“ gekennzeichnet, „nach Konflikten zu suchen, von Staat und Autorität überhaupt immer nur das schlimmste zu denken und dementsprechend die Beteiligten immer in die ‚Guten’ und die ‚Bösen’ aufzuteilen.“ Die Weiterführung dieses Gedankens führte zu
der absurden Behauptung, dass die negative Berichterstattung über die Tet- Offensive mit dazu beigetragen habe, dass der Vietnamkrieg verloren wurde.

2.2.5. Antikommunismus als Kontrollmechanismus
Der fünfte Filter beschreibt, dass Nachrichtenbeiträge, die ein gutes Bild von politischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen und Tatsachen in kommunistischen Ländern widerspiegeln, oder sich nicht deutlich genug zum Kapitalismus bekennen, keine gute Ausgangsposition haben, veröffentlicht zu werden.
Chomsky erklärt, indem der Kommunismus zur Personifikation des ultimativ Bösen gemacht worden sei, habe der Antikommunismus einen religiösen Charakter angenommen. Dabei beschreibt er den Antikommunismus als eine Ideologie mit großzügigen Umrissen, die im Prinzip alle Ziele amerikanischer Außenpolitik rechtfertigt und, als logischen Umkehrschluss, alle Kritik an der „amerikanischen Verteidigung gegen den Kommunismus“ als antiamerikanisch, beziehungsweise prokommunistisch polemisiert und den jeweiligen Kritiker in die Unglaubwürdigkeit abdrängt. Die Medien nähmen die Dichotomisierung der Welt in ‚Gut’ und ‚Böse’ gern auf, wodurch ein eklatanter Patriotismus und eine ständige Angst vor „den Roten“ geschürt werde, was einen negativen Einfluss auf die Objektiviät der Berichterstattung ausübe.
Diese Gedanken werden, im Bezug auf die Außenpolitik, im nächsten Abschnitt noch ausführlicher entwickelt.
Die Ansicht von Günter Grewendorf, dass mit der Auflösung der Sowjetunion der fünfte Filter weggefallen sei, scheint nur halbherzig durchdacht zu sein. Die beiden Golfkriege, sowie der Afghanistan- Einsatz haben deutlich gezeigt, dass die Ideologie des Antikommunismus nahtlos durch die des Antiterrorismus ersetzbar gewesen ist. Darauf verweist beispielsweise auch der Bericht einer überparteilichen Kommission unter Leitung Donald Rumsfelds, die Anfang der Neunziger Jahre über die Errichtung eines Raketenschutzschildes beriet: „War es im Kalten Krieg um eine Abwehr gegen den (nuklear) gleich starken strategischen Gegner Sowjetunion gegangen, so rückte nun die potentielle Bedrohung durch sogenannte ‚Schurkenstaaten’ in den Mittelpunkt – unberechenbare Diktatoren oder antiwestliche Regime in der Dritten Welt, die sich Raketen und Kernwaffen verschaffen wollen.“ Ob die Gefahr, die von Iran und Irak ausging, so groß war, dass sie gleich zwei Kriege rechtfertigte, und ob die beiden Golfkriege in einer sachlichen Medienlandschaft auch als Verteidigungsmaßnahmen dargestellt worden wären, ist zumindest fragwürdig.

3. Kritik an der Berichterstattung über den „Krieg gegen den Terror“
„Das vielleicht beeindruckendste, oft aber schwierigste und verwirrendste an den Analysen Chomskys ist der gewaltige Berg an Tatsachenmaterial, den er zur Unterstützung seiner Thesen […] anführt.“ In diesem Abschnitt kann deshalb nur ein kleiner Eindruck davon gegeben werden, wie Chomsky die Thesen seines Propagandamodells anhand einer empirischen Basis zu verifizieren sucht. In Manufacturing Consent liegt der Schwerpunkt der Beweisführung in einer Analyse über die Kriegsberichterstattung durch die amerikanischen Massenmedien, exemplarisch soll hier die Argumentation und Beweisführung des Abschnitts Worthy and Unworthy Victims (S.37- 87) vorgestellt werden.
Chomsky stellt in dichotomischen Modellen historische Parallelfälle einander gegenüber, und vergleicht Anzahl, Länge und Stellenwert der erschienenen Zeitungsartikel in der New York Times, Time und Newsweek, sowie des Nachrichtensenders CBS News über einen Zeitraum von achtzehn Monaten, ab dem ersten Bericht. Die historischen Parallelfälle sind dabei so konstruiert, dass sie zwei Verbrechen größtmöglicher Ähnlichkeit (Zeitpunkt, Art des Verbrechens, Beweislage, etc.) einander gegenüberstellen, die sich lediglich durch den Urheber des Verbrechens unterscheiden: „Verbrechen, die unseren Feinden zugeschrieben werden können, auf der einen, und Verbrechen, für die die Vereinigten Staaten und ihre Klienten die Verantwortung tragen, auf der anderen Seite.“
Das konkrete Beispiel (siehe Tabelle) ist der Fall des ermordeten Priesters Jerzy Popieluszko, der 1984 in Polen von kommunistischen Polizisten ermordet wurde, der unter anderem verglichen wird mit der Berichterstattung über die Ermordung zweier Offizieller der Guatemalan Mutual Support Group 1985, durch eine paramilitärische Gruppe, die von den USA ausgebildet und ausgerüstet wurde.

Chomsky sieht die Flut der Artikel über die Ermordung des Priesters als Indiz dafür, dass sie propagandistischen Zwecken dient, nämlich der weiteren ideologischen Festigung des Dogmas des Antikommunismus. Deshalb bezeichnet er Popieluszko als ‚wertvolles Opfer’ für die Medien. Dass die Presse hingegen auf ausführliche Berichte über die grausamen, mit Steuergeldern finanzierten Konsequenzen amerikanischer Außenpolitik, die die Morde an den beiden Offiziellen aus Guatemala bezeichnen, verzichtet, begründet er damit, dass sie ‚nicht wertvolle Opfer’ sind.
Es gibt, in Anwendung des Propagandamodells, verschiedene Gründe für die Massenmedien, die Berichterstattung über den selbsternannten ‚Krieg gegen den Terror’ einseitig zu regulieren. Zum einen widerspricht es den Grundannahmen der patriotischen Agenda über solche ‚nicht wertvollen Opfer’ zu berichten, des weiteren liegt es auch nicht im Interesse der privilegierten Elite, die durch kritische Hinterfragung der Ziele der Außenpolitik den Rückhalt in der Bevölkerung verlieren könnte, womit wirtschaftliche Einbußen, zum Beispiel für die Rüstungsindustrie, verbunden wären.
Weiterer Kritikpunkt Chomskys ist, neben dem dargestellten quantitativen Aspekt, der qualitative Unterschied der Berichterstattung, der zum Beispiel thematisiert, wieso die Morde der Iraker an den Kurden als Völkermord bezeichnet werden, die Morde des amerikanischen Klienten Türkei an den Kurden dagegen nicht, obwohl sie einen vergleichbaren Umfang besaßen. Dies kann hier nicht weiter ausgeführt werden, es sei verwiesen auf das Buch Manufacturing Consent.

4. Schlussbetrachtung
Chomskys Leistung im Bereich der Linguistik führte, um es mit einem Begriff von Thomas S. Kuhn zu sagen, zu einem Paradigmenwechsel, der heute als ‚Chomskyan Turn’ bekannt ist. Er selbst lehnt es (inzwischen) ab, eine philosophische Verknüpfung seiner sprachwissenschaftlichen Lehre mit seinen politischen Reflexionen herzustellen. „Doch sein Restitutionsversuch der alten cartesianischen Lehre von den angeborenen Ideen beinhaltet ein bestimmtes Menschenbild, das für großes Aufsehen in der Philosophie sorgte“ und das über seinen Kritiken an der autoritären und leistungsorientierten Gesellschaftsstruktur der USA immer mahnend wacht. Auf seine Medienkritik bezogen, ist herauszustellen, dass Chomsky die politische Mündigkeit als einen Grad von Verständnis betrachtet, zu der jeder Bürger fähig ist, solange er mit den notwendigen Informationen versorgt ist. Vehement weist er das Menschenbild eines Walter Lippmann zurück, der hier nur als ein Beispiel für eine lange Tradition von Vordenkern elitärer Machtkonzepte in Demokratien erwähnt wurde, und der einen Einsatz von Propaganda für notwendig hält, da die Masse der Bevölkerung zu dumm sei, sich eine Meinung zu bilden, die den höheren Interessen von Staat und Gesellschaft dient.
Durch die Prämisse des Cartesianischen Verständnisses, das in jedem Menschen die Kompetenz zum erfassen komplexen Wissens immanent ist, entrückt Chomsky die Politik aus einer Sphäre, zu der nur Intellektuelle, Spezialisten oder besonders Mächtige Zutritt haben, die sich als Verwalter wirtschaftlicher Interessen etabliert hat, statt soziale Kompetenzen zu vermitteln. „Er betont immer wieder, dass es keines sozialwissenschaftlichen Expertenwissens bedarf, dass Außenpolitik nicht schwieriger ist als die Analyse von Sportereignissen.“
Daran schließt sich auch die Kritik an Chomskys Werk an, die bisweilen die „Einfachheit“ seiner Thesen bemängelt, die auf einem rationalistisch- romantischen Menschenbild beruhe. Chomsky rechtfertigt sich dadurch, dass es sein Ziel sei, die Leute dazu zu bringen, Fragen zu stellen, offizielle Erklärungen zu hinterfragen, ihren Verstand zu gebrauchen […]“ und dazu müsse er sich „in einer Weise äußern, die verstanden wird.“ Die Kriterien der Wissenschaftlichkeit sind seinen politischen Schriften deshalb nicht abzusprechen, dennoch sind sie „weniger akademischer Natur als vielmehr den ideologischen Konsens entlarvende kritische Stellungnahmen zum aktuellen Zeitgeschehen.“
Chomsky nimmt unter Berufung auf Rousseau, Humboldt, Marx und Bakunin eine Position ein, die er als libertären Sozialismus und Anarcho- Syndikalismus bezeichnet. Als Grund für die Entstehung elitärer Konzepte, denen die Medien dienen, sieht er die dominierende Rolle der Wirtschaft im Institutionengefüge der westlichen Demokratien. Die Medien unterliegen der Funktionsweise des gelenkten freien Marktes, da sie selbst Großunternehmen sind und mit noch größeren Wirtschaftsimperien verflochten sind, die ganz wie andere Geschäftszweige ihren Kunden ein Produkt verkaufen. „Ihr Markt besteht aus Werbekunden, und ihr Produkt ist das Publikum (nämlich die Werbekonsumenten). Dabei werden sie eher zu einem reichen Publikum tendieren, da ein solches Publikum die Werbeeinnahmen steigert.
Die provokative Behauptung des Titels dieser Arbeit, dass die Medien lügen, ist also nicht auf die Designierung eines veschwörerischen Komplotts aus, sondern beschreibt eine Unzulänglichkeit der Berichterstattung, die durch das kritische Auge der Bevölkerung eingedämmt werden kann, wenn es nur Interesse an demokratischen Werten beweist und bereit ist, sich für Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung zu engagieren.

5. Bibliographie

5.1. Literatur von Noam Chomsky
-Chomsky, Noam Avram: Spectecular Achievements of Propaganda, (= Reihe:
Pamphlet Series) New York 1997.
-Ders.: The Chomsky Reader, New York 1987.
-Ders.: Necessary Illusions. Thought Control in Democratic Societies, Montreal
1989.
-Ders.: Sprache und Politik, Berlin 1999.
-Ders.: Media Control. The Spectacular Achievements of Propaganda,
New York 1997.
-Ders.: Knowledge of Language. It’s Nature, Origin and Use, London 1986.
-Hermann, Edward S./ Noam Chomsky: Manufacturing Consent. The Political
Econonmy of the Mass Media. With a new introduction by the authors, New York 2002.

5.2. Sekundärliteratur
-Busse, Nikolas: Verteidigung gegen Schurkenraketen. Was Washington will, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Februar 2007, S.3.
-Demmerling, Christoph: Chomsky, Avram Noam, in: Bernd Lutz (Hrsg.): Die großen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Biographisches Lexikon, München 1999, S.104-108.
-Grewendorf, Günther: Noam Chomsky, München 2006.
-Haas-Spohn, Ulrike: Noam Chomsky, in: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.):
Philosophie der Gegenwart. In Einzeldarstellungen von Adorno bis v. Wright, Stuttgart 1999, S.144-150.
-Lippmann, Walter: Public Opinion, New York 1922.
-McGilvray, James: Chomsky. Language, Mind, and Politics, Cambridge 1999.
-Salkie Raphael: The Chomsky Update. Linguistics and Politics, London 1990.
-www.chomsky.info

Schweinebirke

Furzähnlich verströmt sich der würzige Duft der eben geöffneten Wurstdose (Hartwurst, französischer Weichkäse) in der kleinen Küche und vermengt sich mit dem dampfenden Strahl Kaffeegeruchs, der aus der kleinen Kanne auf dem Herd stürmt.
Draußen schüttelt der Rest von Orkan „Franz“ die Markisen an einem Balkon am gegenüberliegenden rechteckigen Wohnsystem durch, und die verschwindende Nacht illuminiert den Regen, der in dünnen hysterischen Fäden den kleinen Asphaltweg bepisst. Auf dem Wäscheplatz am Wegrand krümmt sich laublos eine Birke. Ein dürrer gescheckter Pfahl.
Es ist ziemlich zeitig und ich sitze mit meiner Freundin beim Frühstück. Sehr atmosphärisch.
Wenn ich allein bin in unserer Wohnung, verschiebt sich mein Tagesablauf um etwa sechs Stunden nach hinten. Ich stehe um Zwölf auf, versuche mir ein bis zwei Stunden die Zeit mit irgendetwas zu vertreiben, das einen gewissen Grad an Appetit erwecken könnte, um nicht das Gefühl zu haben, rein maschinell zu zerkleinern, verdauen und auszuscheiden. Meistens nutze ich die Zeit, um bei geöffnetem Fenster am Schreibtisch zu sitzen, nachzulesen, was ich die Nacht zuvor erreicht habe und die Gerüche der Nachbarwohnungen an mir vorbeiziehen zu lassen. Ich bin ja für jede Inspiration offen. Die beneidenswerte Eigenart Punkt Zwölf das Essen auf den Tisch zu bringen, die der Großteil der emeritierten Hausgemeinschaft besitzt, trägt mir ein Potpourri hausmannsköstlicher Gerüche in die Wohnung. Rechts neben mir Bratkartoffeln, links neben mir gebratene Leber, unter mir wird ebenfalls Nahrhaftes in Fett gewendet, über mir wird nur geraucht zum Mittag; man ist scheinbar auf Diät. Nachdem der erste Ekel verflogen ist drohe ich meinem Magen mit etwas Mineralwasser. Er kommt schnell zur Besinnung. Die Prozedur des Frühstückens kommt in Gang, ist gegen zwei Uhr abgeschlossen. Ich defiliere aus dem Gebäude, transferiere mich in die Innenstadt und tue was ich tun muss. In diesem Fall ein Referat ausarbeiten. Um nicht die armselige Wurst zu sein, die vom Sicherheitsdienst geweckt wird, wenn die Bibliothek schließt, schleife ich den Körper, der sich lose um meine roten Augen herumdrapiert, nach Hause. Entkorke vorbereitete Alkoholika, begleitend zu meinem „Mittagessen“ gegen zehn Uhr. Und dann ereignet sich Nacht für Nacht dasselbe Dilemma: ich schaue fern und saufe. Das Fernsehen kotzt mich an, ich ertrage keine der Shows, Reportagen, Soaps, Pathologen, High- Tech- Detektive, Hobbyköche, Wohnungseinrichter, Auswanderer, und die ganze krude Sippschaft von Tänzern und Sängern, die sich ihrem ganz großen Traum entgegencasten. Also schalte ich auf der Suche nach irgendeinem Film meine achtundzwanzig Kanäle durch, wieder und wieder, bis ich besoffen genug bin, um mich mit mir allein zu beschäftigen. Damit meine ich natürlich lesen! Vor Vier Uhr morgens schlafe ich dann in der Regel nicht ein und wenn bei den Nachbarn wieder die Pfannen klappern, rolle ich diesen riesigen Stein wieder den Berg hinauf, lasse mir von einem Vogel in der Brust herum hacken und höre den Sirenen zu.
Wie viel schöner ist es doch, bereits am Frühstückstisch zu sitzen, im müden Schein einer kleinen Wandlampe, wenn die Sonne sich noch hinter dem gegenüberliegende Block versteckt. Morgenstund’ hat Gold im Mund! Alte Leute im Bademantel (oder weniger) verzieren kommunistische Küchenzeilen, und die Kakofonie der Morgenstunden rasselt durch die Häuserschluchten, inbrünstig gespielt von gereizten Kehlen, Rotzenden, erbärmlich Hustenden, die sich, ermutigt durch die erste Zigarette, des Schleimes der Nacht entledigen und über die Brüstung spucken.

Wer wird Millionär?

„Diese Antwort ist richtig! Jetzt sind sie nur noch sechs Fragen von der Million entfernt. Haben sie denn schon eine Vorstellung, was sie mit dem Geld machen würden?“
„Na erstma gibt’s ’ne große Party mit Nutten und Koks und so, Schampus und alles. Da lad ich ma alle Freunde ein, oder wer halt so kommt. Dann kauf ich mir ’n Cabrio und fahr an die Côte d’Azure, kauf mir ’n Pelz und adoptier zwei Afrikaner. Aber konkrete Pläne hab ich noch nicht, wahrscheinlich mach ich in Aktien.“
„Na das nenn ich doch mal eine lebensbejahende Einstellung junger Mann: immer raus mit den Moneten, was kostet die Welt? Wer spart der rostet.“
„Wissen se, studiern wollt ich vielleicht schon noch nebenher, man lernt ja fürs Leben und ein Hobby braucht der Mensch.“ (Süffisantes Kopfnicken seitens des Moderators: Herr Günther Güll, wieder hübsch im Anzug und eloquent wie immer.)
„Natürlich würd ich nicht mehr mit der Straßenbahn zur Uni fahren. Ich könnt mir ’nen Platz in ’ner Tiefgarage mieten und dann würd ich ganz lässig immer mit dem Auto reinfahren, im Benz oder so, oder was Englisches: Jaguar, oder Bentley, na ich weiß noch nicht, schwere Entscheidung.“ (Herr Güll neigt dazu, zu unterbrechen.)
„Obwohl früh is immer Stau… Na, aber besser als in der Kälte zur Haltestelle latschen. Andererseits, wenn ich schon Kohle hab, könnt ich ja sowieso umziehen, ich mein raus aus der Platte. Die Frau, die über mir wohnt, raucht wie ein Schlot, das zieht über die Lüftung rein, hab ich gar kein Bedürfnis mehr selber zu rauchen so ekelhaft stinkt das. Und dann Wäsche aufhängen im Keller: hängt da drei Tage und wird nich trocken und alle könn’ deine Buchsen angucken.“
„Ja, das Studentenleben…“ (Dieser Versuch den Redeschwall des Kandidaten, der kurz vor der Beantwortung der 16 000 Euro- Frage steht, mit einer Bemerkung zu unterbrechen, die ihm selbst ein, durch nostalgische Gefühle evoziertes, kümmerliches Lächeln abringt, verläuft im Sand.)
„Nicht das ich irgendwie was Extravagantes tragen würd, aber is ja trotzdem privat, oder nicht?! Fühlt man sich schon irgendwie peinlich berührt, und dann die Riesenschlüpfer von der Oma mit dem Hund! Gibt ja generell viele davon hier, haben ja sonst nichts mehr die alten Leute, aber sich Bücken um die Häufchen wegzumachen könn’ se auch nicht mehr. Ich mag auch Hunde gar nicht so, kläffen immer nur rum und pissen an jede Ecke.“
Herr Güll: (zu sich selbst: was soll das denn? Immer locker vom Hocker, haben nicht ewig Zeit, zehn Sekunden Werbung zwischen acht und neun abends am Wochenende kosten
22 000 Euro, nächste Frage, nächste Frage!) „Gut, kommen wir zur nächsten…“
Kandidat: (in Gedanken) „Tja, wo würd ich denn hin ziehen? Kernberge, da is ganz schön, aber ziemlich abgelegen und schlechte Straßen. Na ja, könnt mir ja ein Jeep kaufen. Der neue BMW X5 is ganz hübsch, aber ich hätte gern was bisschen exotischeres, vielleicht ’n Lexus. Na so richtig gefällt der mir auch nicht. Cayenne oder Touareg oder Land Rover, stehn mir alle nicht so richtig. Dann halt ins Damenviertel, schöne Altbauwohnung, Maisonette, am besten keine Nachbarn. Na obwohl: Nachbarn brauch man schon, um mal nen Schlüssel zu hinterlegen, wenn man ihn selber vergessen hat oder wenn mal ein Handwerker kommt und man is selbst nicht da. (Herr Güll entnervt, bekommt Anweisung von Regie: nächste Frage, nächste Frage!) Pakete kommen ja auch meistens vormittags, dann bin ich nicht zu Haus. Jemand muss ja auch die Blumen gießen, wenn ich im Urlaub bin. Und in Urlaub werd ich jetzt bestimmt öfter fahren, wenn ich so viel Geld hab. Nach Afrika und auf die Malediven und Kuba und Holland und Thailand und Australien und Neuseeland und Sansibar und Indien, da weiß man ja gar nicht wo’s zuerst hingehen soll!“
Herr Güll: „So, die Zeit drängt, kommen wir zur nächsten Frage:
Welche beiden deutschen Politiker waren maßgeblich an der deutschen Wiedervereinigung beteiligt?
A: Kraut und Rübm
B: Kohl und Blüm
C: Rettich und Grün
D: Rabi und Kühn“
Kandidat: „Oh, da bin ich überfragt! Also Rettich und Grün würd ich ausschließen, die Grünen gabs damals noch gar nicht. Rabi und Kühn würde ich jetzt mal, wenn ich mich auf mein Gefühl verlass auch ausschließen, Rabi klingt so jüdisch. Kohl und Blüm: na ja, hab ich schon mal gehört, aber… hm…irgendwie in ’nem anderen Zusammenhang. Also ich nehm Kraut und Rübm. Oder…? Ach ich weiß nicht! Na doch.“
„Ist das ihre Antwort? Soll ich A einloggen?“ (Schadenfroh ist er, der Herr Güll!)
„Ja, das nehm ich.“
„Oh, leider falsch.“

Liebesgrüße aus Malta

„Hallo, ihr Zurückgebliebenen! Sonnige Grüße aus Malta. Wir lassen uns hier schön die Sonne auf den Pelz brutzeln und sind jeden Tag im Meer schwimmen. Geh lieber noch mal ins Solarium, damit du nicht ganz so blass neben uns aussiehst, wenn wir wieder da sind!“
So ungefähr lautete die schockierende Mail, die mir zwei Freunde schickten, die aus beruflichen Gründen die neuen Lieblingsmonate der Nation, Januar, Februar, März und April, auf der kleinen Mittelmeerinsel verbrachten. Nun, man weiß im Allgemeinen nicht sehr viel über Malta. Das Land ist so klein, dass man seine Umrisse auf den meisten Landkarten nicht einmal sieht, weil der rote Punkt, der die Hauptstadt Valetta (9000 Einwohner) markiert, größer ist als die ganze Insel. Einigen ist vielleicht noch die Anekdote von Maltas Beton- Fußballplatz bekannt, vor dem sich alle Nationalmannschaften fürchteten und auf dem die Malteser den größten Erfolg ihrer Sportgeschichte feierten: ein Unentschieden gegen England.
Aber in die andere Richtung scheint der Informationsfluss auch nicht besser zu sein. Denn wie konnten mir meine Freunde ernsthaft (ich fragte mehrmals nach) versichern, dass sie es noch nicht gehört hatten. „Braungebrannt und sportlich – das ist so was von out. Das geht gar nicht, Jungs!“ sagte ich, doch sie lachten: „Und sollen wir uns jetzt auch wieder Haare auf der Brust wachsen lassen, oder was? Nee nee, du Pisser, wir gehen jetzt wieder an den Strand.“ Verzweifelt rief ich noch in den Hörer: „Und zupft euch bloß nicht die Augenbrauen bevor ihr her kommt!“, erhielt aber nur noch Gelächter und ein Freizeichen als Antwort. Sie hatten es tatsächlich verpasst. Dünn und blass ist doch der neue Trend! Nach dem Achtziger- Jahre- Revival, war völlig überraschend die, viel zu lang übergangene, Dekade der 1910er Jahre, in Mode gekommen und erlebte einen unglaublichen Hype.
Am Sonntag nach ihrer Ankunft trafen wir uns in der neuen Dunkelkammer des ehemaligen Solariums am Holzmarkt. Vermutlich vom strahlenden Sonnenschein weich gekocht, schlugen sie vor, in den Paradiespark zu gehen, um ein paar Bier zu trinken. Entsetzt stellten sie dort fest, dass niemand da war um sich zu sonnen oder Frisbee zu spielen. „Wo sind die denn alle?“ fragte Tom. „Die meisten werden wohl zu Hause sitzen und Gedichte auswendig lernen, oder so. Und übrigens trinkt man diesen Sommer Weißwein.“ Als ich ihnen dann noch erklärte, dass sie heute nicht schon eine Stunde vor Anpfiff im Pub sein müssten, um das Viertelfinal- Hinspiel der Champions League sehen zu können, weil es eh keinen interessiert, waren sie endgültig bedient und verließen mich mit hängenden Schultern. „Ihr habt doch alle ’nen Knall!“
Es vergingen ein paar Wochen, bis ich Tom eines Samstags wieder traf. Er war zwar immer noch ein bisschen braun, hatte sich aber inzwischen ein paar beachtliche Augenringe zugelegt, und seufzte laut auf zur Begrüßung.
„Na, wie geht’s?“
„Zum kotzen, und selbst?“
„Klar, mir auch!“
„Was machst’n heut Abend?“
„Ich bleib zuhause, hab mir grad ein Buch gekauft.“
In wunderschöner schwindsüchtiger und sensibler Geste zeigte er mir den seidenen Einband mit dem Titel: „Der Genitiv: Opfer unserer Oberflächlichkeit? Eine Anleitung zum Hausgebrauch.“ Bravo Tom!

Von der alternativen Eitelkeit

Girolamo Savonarola war einst Herrscher über Florenz und weil er nicht gerade ein Müßiggänger war führte er einen Kampf gegen so ziemlich alles was Spaß macht. So ließ er unter seinem Wahlspruch „Brucciamenti della vanita“ – „Vernichtet die Eitelkeit“ Bücher und Faschingsmasken auf dem Marktplatz verbrennen, damit die hedonistischen Florentiner sich wieder ganz der Läuterung ihrer verkommenen Seelen zuwenden konnten und mehr Zeit zum Büßen haben. Man dankte ihm recht herzlich und verbrannte ihn etwas später an selber Stelle. Mein Bruder ist ebenfalls jemand, der, zum Glück nicht so radikal, jenseits der institutionalisierten Konsumschlacht sein Zelt aufgeschlagen hat, was mir das leidige Geschenkesuchen an Weihnachten und Geburtstagen zusätzlich erschwert, denn was schenkt man jemandem der nichts braucht? Zunächst bin ich davon ausgegangen, dass ihm gefallen könnte was mir auch gefällt. Das war ein Fehler, er trank den Whiskey noch am selben Abend, obwohl ich ihm von der Exklusivität des teuren Getränks berichtete, ohne auch nur einmal zu schlurfen oder zu gurgeln, sich die Lippen zu lecken, den schweren Fluss des Tropfens aus dem Glas zu würdigen oder seine einzigartige bernsteinfarbene Aura zu preisen. Geschmäcker sind nun mal verschieden.
Dann dachte ich: Dinge, deren Benutzung selbst er nicht verweigern kann, könnten ihm eine Freude machen. Doch auch dies erwies sich als Trugschluss. Statt dem Gürtel den ich ihm geschenkt habe benutzt er immer noch einen alten Schnürsenkel um seine Hose zu fixieren, in den Armeeschlafsack der selbst bei -20 Grad noch warm hält hat letzten Sommer ein Freund von ihm gekotzt und das von der ‚Times’ empfohlene und in Brighton von Künstlern gepriesene ‚Doodles’ Mal- und Schreibbuch verhindert jetzt, kaum benutzt, als tragendes Element den Absturz eines Bücherregals.
Um meine Niederlagenserie zu beenden wechselte ich dieses Jahr wiederum meine Strategie. Wenn er nichts braucht, so dachte ich, dann schenke ich ihm etwas, dass er auch nicht gebrauchen kann und wanderte in einen dieser nach Pachouli stinkenden Alternativläden. Ein schon etwas älterer Inder nickte mir freundlich zu als ich in sein Reich der spirituellen Sinnlosigkeit eintrat. Geschnitzte Fruchtbarkeitssymbole, Duftstäbchen aller Perversionen, Katzen aus Holz mit endlosen Hälsen, Batik- Shirts, Kommoden für die Knopfsammlung, aus Bambus geflochtene Matten für Pilates- und Yogaübungen, Glücksteine, Glückselefanten, Glückskäfer, gregorianische Gesänge und buddhistische Gebete auf CD, alles was anständige Inder in den Ganges schmeißen tauchte hier als tolle Geschenkidee auf. Das wollte ich meinem Bruder dann doch nicht antun. Auf dem Weg nach draußen versucht mich der Verkäufer zu überzeugen doch noch etwas zu kaufen, doch ich lehnte dankend ab. Sein Kommentar: „Vielleicht bist du nicht alternativ.“ Zunächst fühlte ich mich etwas beleidigt. Denn beim Vergleich einiger Gegensatzpaare, zum Beispiel alternativ – konservativ, alternativ – arriviert, alternativ – spießig, alternativ – durchgestylt ; sah ich mich schon eher in der alternativen Ecke, wenn man das mal als eine Art Lebensstil betrachtet. Aber was genau ist denn eigentlich alternativ? Dreadlocks, Kordhosen, Fair- Trade- Schokolade, Brustbeutel, kein Fleisch essen, und nur mit Kernseife waschen? Auch in dieser Gruppe fühlte ich mich etwas deplatziert. Wahrscheinlich bin ich dann einer dieser gleichgültigen Establishment- Typen die einfach immer mit dem Strom schwimmen und sich um nichts Gedanken machen und leichenblass den Untergang der sozialen Werte billigen.
Wo war ich bei der letzten Montagsdemo? Lebe ich nicht auch in einem Haushalt voller künstlicher Sauberkeit und wasche mich öfter als dem ph- Wert meiner Haut gut tut anstatt durch eine naturbelassene Lebensweise eine metaphysische Harmonie mit dem Kosmos herzustellen?
Meine Gedanken trugen mich fort, doch ich machte kehrt. Ohne mit der Wimper zu zucken ging ich zurück und tat etwas, das diese Welt wieder ein wenig menschlicher machte, meine Alternativität zumindest partiell wieder rekonstruierte und meinen Bruder vollauf begeisterte. Na ja, zumindest hat er sein neues japanisches Miniatur- Tee- Service noch nicht aus Versehen weggeschmissen.

Grube und Pendel

Letztes Wochenende ist meine Freundin zu ihren Eltern gefahren. (Wir haben uns nicht gestritten) Ich konnte leider nicht mitfahren weil die Fertigstellung meiner Hausarbeit ohne mich einfach nicht vorankommt. Es stellte sich heraus mit mir auch nicht. Schreibtisch- Grube, Hausarbeit- Pendel und laufe durch die Dunkelheit und die Dunkelheit ist rund. Und dunkel.
Freitag um zwölf Uhr Mittag ging sie heim. Trauer überkommt mich.
Trotz heftiger Bedenken hebe ich das Rauchverbot in unserer Wohnung auf. Was für eine Freiheit, nicht mehr auf den Balkon gehen müssen zum rauchen, auch nicht heimlich zum Fenster raus, nein, wie ein Mann: rauchend an der Schreibmaschine, rauchend das Bier aus dem Kühlschrank nehmen, rauchend auf Toilette gehen, rauchend sinnierend rauchend… Blumen gießen muss ich noch. Erstmal schalte ich den Fernseher (rauchend) an um etwas Abstand von der belastenden Muss-Tun-Situation zu gewinnen. Das brachte uns wieder näher, denn Sie tat ja gerade dasselbe. (Abstand gewinnen)
Es gibt sehr viele Gründe kein Fernsehen zu gucken, aber auch immer einen dafür: sich vor der Arbeit drücken.
Hunger reißt mich aus dem Schlaf. Schiebe zwei Cheesburger in die Mikrowelle (rauchend) und schalte schon mal meinen Laptop ein, denn nach dem Essen sollte ich wirklich anfangen.
Ich setz mich dann auch ran und trinke noch ein Bier. Es ist um zwei. Sonst trinke ich natürlich kein Bier um die Zeit, schon aus Selbstachtung nicht, Achtung! Vor! Ihr!
Als ich nun so trinke und denke,… Sollte vielleicht noch einkaufen gehen, dann muss ich morgen nicht und kann gleich durcharbeiten.
Kaufe also gleich ein für morgen. Geh dann noch mal und kauf ein für Sonntag. Es ist um Vier. Jetzt aber! Zuerst lese ich mir nochmal kritisch, das bereits Geleistete durch, streiche die aber’s, somit’s, woraufhin’s, auch’s, mache aus zwei Relativsätzen einen Hauptsatz, womit jener gleich viel besser zu lesen ist, und achte auch noch mal gesondert darauf, keine Sätze zu bilden die zu lang sind, oder denen es an Stringenz mangelt, woraufhin ich die Kommasetzung kontrolliere, und zusätzliche Fremdwörter einsetze, deren Sinn ich mir zuvorderst im Duden erfragt habe, obwohl ich mir ihre Apologie auch hermeneutisch aus dem Konglomerat hätte evaluieren können.
So. Um Fünf. Brauch erst mal ne Pause. Bei der Hitze sind Pausen wichtig und viel trinken. Rauchend öffne ich Bier Nummer drei. Uiuiui
Obwohl alle Fenster und Türen geöffnet sind beträgt die Raumtemperatur 28 Grad bei 80 Prozent Luftfeuchtigkeit, die Mücken schwitzen und verstecken sich unter dem Geschirr in der Spüle, allein die Palmen fühlen sich wohl. Steige erstmal um auf Cola. Halb Sieben. Schaue erstmal die Simpsons. Dann Galileo, Tagesschau, zwei Tassen Kaffee. Wird ne lange Nacht. Hitzewallungen, wieder Cola. War inzwischen ca. zwanzigmal pinkeln und versteh jetzt auch warum Sie darauf besteht, dass ich mich dazu hinsetze.
Ich versacke vor dem Fernseher in einer Art Wachkoma, rauchend, paralysiert von Koffein und Bildschirmflackern. Beleidigt surrt mein Laptop im Standby- Modus, aber an Arbeit ist nicht mehr zu denken.
Das Pendel schwingt, zischend die Luft durchteilend über mir. Schneidet die große Freiheit in Scheibchen, aber noch gebe ich nicht auf. Ich bin nicht unvernünftig, nein, kreativ! So arbeiten Künstler! Da gibt’s kein Tag und Nacht. Erst den Geist befreien und wenn der Körper dann keine Rolle mehr spielt, wenn die Eingebung kommt, das Fieber steigt, dann schießen die Gedanken quasi. Der Schreibvorgang an sich wird überhaupt nicht wahrgenommen, ein rauschender Walzer der über die Tasten schwebt. Erwartungsfroh setze ich mich wieder an den Schreibtisch und warte auf den göttlichen Funke, der schon durch die konspirative Atmosphäre, die inzwischen mein Heim beseelt hierher geleitet werden muss. Ich bin praktisch wie der Windhund, der schon wild scharrend in seiner Box steht und nur darauf wartet, dass der Hase an ihm vorbeirast und das Gitter aufgeht.
Doch das Gitter bleibt geschlossen und als mein Hase nach Hause kommt beginnt ein anderes Rennen. Ihren Abschluss findet meine Hausarbeit schließlich konventionell und langweilig in der Bibliothek.

Fisch mit Fenchel

Gestern Nacht kam ich mit meiner Freundin von der Arbeit. Wir hatten gerade unsere Bahn verpasst und um die Zeit totzuschlagen beschlossen wir, uns an einem Dönerstand noch einen kleinen Nachtimbiss zu genehmigen (Bargeld, eben verdient, juckt auch immer so in der Tasche). Am Stehtisch neben dem Imbiss tranken drei ältere Türken Tee und amüsierten sich über den Verkäufer, der mit einem Wischtuch als Propeller einem kleinen Jungen hinterher rannte. Völlig unbeeindruckt dessen, feierten etwa zwanzig barhäuptige Männer mittleren Alters, höherer Betrunkenheit und niedriger Einschaltquote heiter wie die Kinder den dritten Platz der Fußballnationalmannschaft.
Während wir am Tresen stehen und warten packt mir plötzlich ein Typ von der Statur eines Braunbären auf die Schulter und schiebt sich aufmerksam grummelnd vor mich. Da ich eher filigran gebaut bin und auch nicht dazu neige in heldenhafter Posse meine natürlichen Gesichtszüge aufzugeben, nehme ich den Fehdehandschuh nicht an und lasse diesem Schnapsgeschwängerten Stück Pathetik den Vortritt. Ein Seitenblick auf meine Freundin verrät mir allerdings: SIE wird diese Niederlage nicht in feiger Vernünftigkeit akzeptieren. Hochrot klingelt sie beim Braunbär: „Entschuldigung, wir stehen hier auch an!“
Seine Augenbrauen formieren sich zu einem Aufwärtshaken: „Das innressiert misch gar nisch!“
„ Aber mich interessierts!“
Immer noch selbstsicher die Problematik mit Eloquenz lösen zu können, artikuliert er mit vollem Körpereinsatz: „Geh mer nich aufn Sack, du bissn Aschloch!“
„Wieso bin ich denn ein Arschloch, Sie kennen mich doch überhaupt nicht?!“
Die Situation droht zu eskalieren, ich suche nach einem Gegenstand den ich ihm auf den Kopf schlagen könnte.
„Zigge“, brummelt er.
Sie reagiert nicht mehr.
„Aschloch“. Nochmal.
Der Verkäufer kommt. „Bitteschön?“ Fassungslos nimmt der Braunbär zur Kenntnis, dass meine Freundin ihre Bestellung abgibt, schaut sie mit offenem Mund an und dreht wortlos ab.
Als wir unser Essen dann hatten gingen wir zurück zur Haltestelle. Ich fühlte mich leer und schlecht und kastriert und stolz und erleichtert. Während wir dann auf dem Bahnsteig saßen und unsere Kinderdöner aßen, sagte sie zu mir: „Machen wir morgen den Fisch? Mit Fenchel und Karotten?“
Die nächste erschreckende Erkenntnis dieses Abends ließ nicht lang auf sich warten. Meine Eltern waren bei einem Festival in der Nähe und wollten bei uns übernachten. Das ist an sich noch nicht so schlimm, was mir zu denken gab war die Tatsache, dass meine Eltern an einem Samstagabend länger ausgehen und betrunkener nach Haus kommen als ich. Das war seit meiner Jugendweihe nicht mehr passiert. Nicht, dass es an Möglichkeiten gemangelt hätte! Gleich neben der Haltestelle hatte ein Rockkonzert stattgefunden, doch die Band war so miserabel, dass ich mein sauer verdientes Geld für mich behielt (das Jucken schien geheilt, cremende Vernunft!) und mit meiner Freundin heimging. Mit meiner Freundin. In unsere geputzte Wohnung. Den Fisch und das Brot aus dem Gefrierschrank nehmen. Zähne putzen. Gute Nacht. Ich konnte nicht schlafen. Was würde als nächstes passieren? Ruft mich mein Opa an und erzählt mir, dass er mit seiner Pflegerin gekifft hat? Wird Oliver Bierhoff neuer Bassist bei den Rolling Stones? Bin ich uncool geworden! Midlifecrisis mit 22?
Neben mir liegt warm eingekuschelt mein Mädchen. Süße. Und ich merke: ich bin glücklich, ich kann nicht uncool sein. Aber ich bin erwachsen geworden irgendwie. Nächste Woche sollte ich mal wieder was Unvernünftiges tun. Oder lieber erst in zwei Wochen, nach den Prüfungen…

Nur ein Lufthauch

Ich bekam gerade meinen Kaffee, hatte schon das Zuckertütchen aufgerissen und freute mich auf die zwei kleinen Zimtplätzchen, die immer am Rand der Untertasse liegen, als ich erfuhr, dass er gestorben war. Aus den Lautsprechern im Café drang „Back to Black“ und es kam mir vor, als nähme dieses Lied niemals ein Ende. Ich blieb noch etwa eine halbe Stunde sitzen, aber ich kann mich nur an dieses eine Lied erinnern. Sobald ich es irgendwo höre, erscheint Alles erneut vor meinem geistigen Auge:
Es ist ein sonniger Freitagnachmittag Anfang Februar. Ich komme aus der Bibliothek und ein merkwürdiges Gefühl völliger Losgelöstheit und Freiheit, das mich seltsam benommen und gleichsam lustvoll ratlos macht, ergreift und lenkt mich. Es ist mehr als das Wochenendgefühl, das ich sowieso schon lang nicht mehr kenne, ich bin wie stoned und will den Moment auskosten…irgendwo draußen sitzen in der Sonne…Kaffee trinken…lesen.
Ich schlendere die Johannisstraße Richtung Wagnergasse entlang, setze mich auf die Treppe am Eichplatz, die in spitzem Winkel von einem Sonnenlicht getroffen wird, welches nur widerwillig vom eisklaren Winterhimmel freigegeben zu werden scheint. Ich öffne den Mantel, lege den Schal ab, rauche eine Zigarette und beobachte wie der schneidend blaue Rauchfaden zunächst kerzengrade nach oben schwebt, um sich dann in zwei grazile Säulen aufzufächern, in deren Mitte eine dünne Membran aus Rauch und fragilster Eleganz flackert, bis sie schließlich von einem nicht spürbaren Lufthauch verweht wird.
Ein kleiner Wohnwagenanhänger verströmt den Geruch von Frittiertem. Leute stehen an, um sich deutsche chinesische Nudeln für ihre Mittagspause zu kaufen. Alles scheint automatisch zu laufen, ich wundere mich über die Selbstverständlichkeit dieses Lebens, als wäre ich gerade erst angekommen und müsste mich noch an die unsichtbaren Schnüre gewöhnen, die unsere Wege lenken, die mich auf diese Treppe gesetzt haben. Ich schwimme nicht gegen den Strom und nicht mit ihm. Ich sitze daneben und staune über den nie versiegenden Fluss der Dinge. Die Gesten, die das Dasein verlangt, die Lächerlichkeit der Gewohnheit, die Sinnlosigkeit der täglichen Betriebsamkeit. Eine schmerzhaft schöne Zeitlupe.
Dennoch passte all das gar nicht zu meiner eigenen Situation und Stimmung, erschien mir so aufgesetzt, fremdbestimmt. „Das Gefühl der Absurdität kann an jeder beliebigen Straßenecke jeden beliebigen Menschen anspringen. Es ist in seiner trostlosen Nacktheit, in seinem glanzlosen Licht nicht zu fassen.“ (Camus)
Als ich dann schließlich in dem Café saß und die Nachricht seines Todes vernahm, war ich nicht geschockt, nicht mal den Tränen nahe. Stoisch, benommen verharrte ich wie eingefroren. Ich stand außerhalb des Bildes und fühlte die Welt rasen, fühlte die Zeitströme um mich herum rauschen, fühlte Willkür und Ohnmacht und Größe; wie ein Sandkorn, das sich daran erinnert, einmal ein Fels gewesen zu sein.
Ich ließ den Zucker in die Mitte der Tasse rieseln und sah zu, wie er langsam durch die dünne Decke aus Milchschaum schlüpft, sich am Boden sammelt und auflöst. Am Rand des kleinen Durchbruchs, den das Gewicht der sich sammelnden braunen Zuckerkristalle hinterlassen hat, waren Zucker und Milch verschmolzen und bildeten eine zerbrechliche Kruste.
Erst im Nachhinein wird der Moment für mich fassbar. Es war nicht die Absurdität meines eigenen Lebens, die mich packte.