Helmbrecht

Zwischen Kriminalisierung und Globalisierung –
die didaktische Intention Wernher des Gärtners im Märe Helmbrecht

1. Einleitung
Im Epimythion des Märe Helmbrecht wird sein Anspruch als Lehrdichtung unmissverständlich offenbar: „Swâ noch selpherrischiu kint/ bî vater unde muoter sint,/ die sîn gewarnet hie mite./ begânt sie Helmbrehtes site,/ ich erteile in daz mit rehte:/ in geschehe als Helmbrehte.“
Folglich beschäftigte sich auch bereits eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten damit, zum „Kern der Didaxe“ vorzudringen. Was in einer reichhaltig vorhandenen Forschungsliteratur resultierte, zeigt gleichzeitig die „Moden“ der Literaturwissenschaft auf, von denen die Forschungsgeschichte des Helmbrecht immer wieder beeinflusst wurde. Fritz Peter Knapp identifiziert Einflüsse der regionalen und nationalen Philologien, des Positivismus, Historismus, Nationalsozialismus, Marxismus, der werkimmanenten Betrachtungsweise, des Formalismus und Strukturalismus bis hin zur Textsemiotik und Textpragmatik. Die imposante Liste der Publikationen zum Helmbrecht und das fortwährende Interesse der Forschung an der einzigen erhaltenen Dichtung Wernher des Gärtners zeugen von der poetischen Güte des im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts entstandenen Werkes, die nicht zuletzt durch die zeitlosen Konfliktlinien und ihre möglichen Aktualitätsbezüge genährt wird.
Es wird aber auch deutlich, dass der Versuch der Rekonstruktion der didaktischen Intention Wernhers im Laufe der Forschungsgeschichte zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führte. „Es ist beinahe eine communis opinio der Forschung, dass es das Ziel des jungen Helmbrecht sei, Ritter zu werden“ . Ausgehend von dieser Annahme, wird die Erzählung teilweise als Kriminalisierung des sozialen Aufstiegswillens gedeutet — so unter anderem bei Schwob und Schindele —, den Wernher mit „alttestamentarischer Wucht“ niederschlägt. Bausinger spricht hingegen von einer „Globalisierung der Moral“, demzufolge „die Grundtendenz des Gedichts nicht etwa eine spezifische Moral anvisiert, sondern die allgemeinste, die man sich vorstellen kann: Gotteskindschaft“ .
Die vorliegende Arbeit will diese Argumentationen kritisch hinterfragen, die Gründe für das Scheitern Helmbrechts genau beleuchten und darstellen, welche reliablen Rückschlüsse auf die didaktische(n) Intention(en) Wernhers möglich sind. Dazu sollen im ersten Teil der Arbeit die für das Verständnis des Helmbrechts maßgeblichen Phänomene der sozialen Mobilität und des Verfalls der Ständeordnung anhand ausgewählter Textstellen erklärt und kontextualisiert werden. Die Spurensuche nach zeithistorischen Paradigmen der Recht- und Ordolehre soll die Einbettung des Märe in seine Entstehungszeit bewerten und interpretieren, besonders hinsichtlich möglicher Veränderungen im Wertesystem des Hochmittelalters.
Abschließend bleibt zu beurteilen, ob es tatsächlich der Versuch des Standeswechsels ist, den der Autor moralisch verurteilt, oder ob die didaktische Intention losgelöst von der sozialen Hierarchie des Mittelalters, Bauern- Adel- Klerus, zu verstehen ist.

2. Kriminalisierung sozialen Aufstiegswillens
2.1. Soziale Mobilität
Für die Datierung der Entstehungszeit der Versnovelle Helmbrecht stehen lediglich zwei intertextuelle Verweise zur Verfügung. Als untere Grenze dient der Tod des Dichters Neidhart, der in Vers 217 erwähnt wird („her Nîthart, und solde er leben“) und in den Zeitraum nach 1237 und vor 1246 einzuordnen ist, als obere Grenze eine Anspielung auf den Helmbrecht im XV. Gedicht des Seifried Helbling von 1291/99. Eine Datierung in die Zeit des Interregnums kann somit nicht sicher nachgewiesen werden, wird aber vielfach als wahrscheinlich angenommen. Zumindest sind die 20 Jahre „der kaiserlosen, der schrecklichen Zeit“ als maßgeblicher Einfluss anzunehmen, da sich in ihr ein Konflikt manifestiert, der ein Leitmotiv der Handlung ist: der hierarchische Unterschied zwischen zwei sozialen Gruppen, zwei mittelalterlichen Ständen; den Bauern und dem Adel.
Hier beginnt eine als gottgegeben empfundene Trennlinie aufzuweichen, im unverhohlen geäußerten Wunsch des jungen Helmbrecht, seinen Stand zu verlassen: (V. 226) „mîn wille mich hinz hove treit“. Dass am Ende seiner Ambitionen ein grausamer Tod steht, ist eine Besonderheit in der theozentrischen Lebensanschauung mittelalterlicher Dichtung, die „die Welt als Gottes vollkommene Schöpfung“ begreift, in der „Gott sein bestes Werk in ihr, den Menschen, in all seiner Sündhaftigkeit letztlich nicht verloren gehen lassen“ kann.
Wollte Wernher an Helmbrecht ein Exempel statuieren, ist die Erzählung als konsequente Kriminalisierung des sozialen Aufstiegswillens der Bauern zu verstehen? Gerhard Schindele verurteilt ganz richtig, dass die Erzählung „in der Regel als objektives Abbild gesellschaftlicher Realität rezipiert und nicht als deren teils bewusst parteiliche, teils das Bewusstsein von Autor und zeitgenössischem Publikum übersteigende Interpretation.“
Denn das Thema der sozialen Mobilität, das Verlassen des eigenen Standes, erfährt im Helmbrecht eine spezifische Ausgestaltung, die implizit noch andere gesellschaftliche Probleme darstellt, so etwa Kritik am Adel und am Gerichtswesen äußert.
„lieber sun, nû bouwe:/ jâ wirt vil manec frouwe/ von dem bûwe geschœnet,/ manec künec wirt gekrœnet/ von des bûwes stiuwer.“ (V. 553ff)
Diese beachtliche Rede des Meier Helmbrecht, die den Sohn von seinen Plänen abbringen soll, zeigt deutlich, dass im hohen Mittelalter ein gesellschaftlicher Veränderungsprozess einsetzt. Der wohlhabende Meier versteht seine Arbeit nicht mehr nur als „Teil des göttlichen Schöpfungsauftrages“ und Erduldung des irdischen Daseins als Strafe infolge des Sündenfalles, sondern als eine ehrenvolle Aufgabe, die „Vorraussetzung des Fortbestandes der gesamten Schöpfung“ ist und von der die Macht der Herrschenden abhängt. Ausdruck dieser neuerlangten Dignität bäuerlicher Arbeit ist das immer häufigere Streben wohlhabender Bauern (und Bürger) in den Ritterstand, der sich zu Beginn des Hochmittelalters noch nicht als Geburtsstand, sondern als Berufsstand begreift, als eine Gemeinschaft einfacher Krieger (ordo militaris), in die jeder aufsteigen kann, „der die immensen Kosten für Rüstung, Schwertleite und ein standesgemäßes Leben aufbringen“ kann.
Als Folge dieser Entwicklung, missgünstig betrachtet von den Angehörigen des höheren Adels, wird der Ritterstand rechtlich abgeschlossen und als Geburtsstand mit elitärem Charakter definiert. Angehörige des niederen Adels, die sich die hohen (und durch die Konkurrenz mit dem reichen Bürgertum immer höher steigenden) Kosten der höfischen Lebensweise nicht mehr leisten können, „verbauern“ oder werden zu Raubrittern, auch weil ihnen durch die zunehmende Landflucht der Bauern die Einnahmequelle versiegte. Hingegen gelingt es vielen Bauern, die es zu Wohlstand gebracht haben, trotz der von Friedrich II. erlassenen Gesetze, in den Adelsstand aufzusteigen. Der einst einheitliche Stand, der ordo militaris, teilt sich auf in das genus nobile (höherer Adel) und das genus militaris (niederer Adel).
Dass Helmbrecht und Gotelint versuchen, sich eine adelige Abkunft nachzuweisen, deutet darauf hin, dass in der Entstehungszeit der Erzählung der Ritterstand schon rechtlich abgeschlossen gewesen sein muss, und ihnen theoretisch nicht mehr die Möglichkeit gegeben ist, sich in den Ritterstand einzukaufen.

2.2. Verfall der Ständeordnung
Die Schilderung, die Helmbrecht dem Vater bei seiner ersten Rückkehr nach Hause vom Leben bei Hofe gibt, zeugt von einem Lebensstil des genus militaris, der keinerlei höfischem Ideal mehr entspricht (V.985ff):
„daz sint nû hovelîchiu dinc:/ ‚trinkâ, herre, trinkâ trinc!/ trinc daz ûz, sô trinc ich daz!/ wie möhte uns immer werden baz?’/ vernimm waz ich bediute:/ ê vant man werde liute/ bî den schœnen frouwen,/ nû muoz man si schouwen/ bî dem veilen wîne./ daz sint die hœhsten pîne/ den âbent und den morgen,/ wie si daz besorgen,/ ob des wînes zerinne,/ wie der wirt gewinne/ einen der sî alsô guot,/ dâ von si haben hôhen muot./ daz sint nû ir brieve von minne:/ ‚vil süeziu lîtgebinne,/ ir sult füllen uns den maser!’/ ein affe und ein narre waser,/ der ie gesente sînen lîp/ für guoten wîn umbe ein wîp./ swer liegen kann der ist gemeit,/ triegen daz ist hövescheit./ er ist gefüege, swer den man/ mit guoter rede versnîden kann./ swer schiltet schalclîche,/ der ist nû tugentrîche./ der alten leben, geloubet mir,/ die dâ lebent alsam ir,/ die sint nû in dem banne/ und sint wîbe und manne/ ze genôze alsô mære/ als ein hâhære./ âht und ban daz ist ein spot.“
Helmbrecht beschreibt die „völlige Umkehrung aller Werte“, die den Ritterstand noch vor einer Generation ausgezeichnet haben, wie die Schilderung (V.913-973) „des vollendet tugendhaften höfischen Lebens“ durch den Meier beweist, den sein Vater (V.916f) „hin ze hove het gesant/ mit kaesen und mit eier“.
Der relative Wohlstand, den der Meier Helmbrecht erlangt hat, und die Selbsterkenntnis der Wichtigkeit und Würde seiner Arbeit zeugen von einem emanzipierten Bauernstand. Ihm steht das entwurzelte Personal eines (Teil des) Ritterstandes gegenüber, den Wernher als moralisch verfallen zeichnet, negativ konnotiert in jedem Detail. Wenn hier also von einem Verfall der Ständeordnung gesprochen wird, dann referiert das nicht auf die bloße Existenz der personellen Interaktion zwischen den Ständen, sondern auf die Art, wie Wernher die beiden in der Handlung auftretenden ordines darstellt. Volker Honemann widerspricht deshalb der neueren Forschung, die im Helmbrecht die Kriminalisierung des Aufsteigers durch den Autor Wernher zu sehen meint. Plausibler erscheint, „dass der junge Helmbrecht weit eher ein Aussteiger denn ein Aufsteiger ist. Seine Ziele sind von Anfang an unehrenhaft, ja verbrecherisch. […] Mehrfach betont er, dass es seine Absicht sei und ihm Freude bereite, zu plündern, zu rauben und seinen Opfern Gewalt anzutun“ (V. 379: „ich wil rouben alle tage“).

3. Globalisierung der Moral
Die Beschränkung auf eine singuläre identifizierbare moralisch-didaktische Intention des Dichters kann dem „fraglos hohe(n) literarische(n) Wert“ des Werkes nicht gerecht werden. Dass Wernher den Willen des jungen Helmbrechts, aus der ihm zugewiesenen Rolle innerhalb des Ständegefüges auszubrechen, verurteilt, soll hier nicht in Frage gestellt werden. Doch Wernhers Kritik an der Gesellschaft ist mehrdimensional: Helmbrecht verweigert seinen Eltern den Gehorsam, er leugnet seinen Geburtsstand, und verstößt gegen die „gottgegebene Ordnung, welche sich in der patriarchalisch geleiteten Familie, der hierarchisch gestufte Gesellschaft und dem vom Landesherrn zu gewährleistenden Zustand des Rechts und Friedens manifestiert.“
Georg Steer stützt die These, dass die Thematik des Ständewechsels nicht vordergründig erscheint. Die Ständeordnung selbst steht für den Autor zu keiner Zeit zur Disposition, sie ist selbstverständlich für einen mittelalterlichen Menschen, der ohne Bewusstsein für Geschichtlichkeit alles Leben und Sein als gottgegründet und gottgewollt versteht. Veränderungen innerhalb des Ständegefüges sind deshalb nicht unmöglich, wie die Betrachtungen zum Thema soziale Mobilität gezeigt haben, ein Aufbegehren gegen Gottes Gesetze jedoch ist religiöser Frevel und Sünde. Konsequenterweise erfährt Helmbrecht deshalb auch für jede Sünde, die er begeht, eine Bestrafung. Nichts bleibt ungesühnt.
Dass Wernher zugunsten der strengen Symmetrie Sünde – Strafe die Rechtswirklichkeit seiner Zeit verzerrt darstellt, beschreibt vorzüglich Petra Menke. Die Beschreibung des Gerichtsverfahrens, der ungewöhnlich harten, zur Entstehungszeit des Helmbrecht schon nicht mehr üblichen Strafen und der implizite Vorwurf der Bestechlichkeit der Richter (V.1673-1678) weisen darauf hin, dass Wernher die reale Gerichtsbarkeit als unzureichend empfand. Steigende Kriminalität war scheinbar ein Problem, dem sich das Gerichtswesen nicht schnell genug anpasste, weshalb Helmbrechts gewaltvolle Karriere erst durch den Schergenbann gestoppt werden konnte. Der Scherge tritt hier als ein Bote — oder gar Stellvertreter — Gottes auf, dem übernatürliche Kräfte gegeben sind (V.1639-1650):
„got ist ein wunderære,/ daz hœret an dem mære./ slüege ein diep al eine ein her,/ gein dem schergen hât er keine wer:/ als er den von verren siht,/ zehant erlischet im daz lieht,/ sîn rôtiu varwe wirt im gel;/ swie küne er wære und wie snel,/ in væht ein lamer scherge./ sîn snelheit und sîn kerge/ die sint im alle gelegen,/ sô got der râche will selbe phlegen.“
Die unrealistische Darstellung des Gerichtsverfahrens und der Verhaftung Helmbrechts wird gelegentlich mit juristischer Unkenntnis Wernhers erklärt. Wahrscheinlicher ist aber, dass die eindringliche Mahnung zu einem gottgefälligen Leben und zur Wahrung des Friedens im mittelalterlichen Verständnis nur dann schlüssig ist, wenn ihr eine funktionierende Rechtsordnung zu Grunde liegt. Wernher muss hier Gott in Person des Schergen auftreten und den Friedensstörer aufhalten lassen, weil der mit der Friedenssicherung beauftragte Landesherr seiner Aufgabe nicht mehr nachkommt.

4. rehte tuon – Avaritia
Dem Verhältnis des jungen Helmbrecht zu seinem Vater wird in der Erzählung ganz offensichtlich ein viel größerer Stellenwert eingeräumt als der Ständeproblematik. Die Handlung ist, bis auf wenige Verse, auf dem Hof des Meiers situiert. Was Helmbrecht außerhalb des heimischen Hofes erlebt, wird in extrem geraffter Erzählzeit berichtet. So stehen einem Jahr Raubritterleben, erzählt in 43 Versen (653-696), 758 Verse (697-1455) gegenüber, die über die erste Rückkehr Helmbrechts nach Hause berichten, welche lediglich eine Woche umfasst.
Auch der ungefähr gleich große Redeanteil des Vaters unterstreicht seine herausragende Bedeutung. Wernher stellt hier zwei völlig verschiedene Charaktere gegenüber, die nicht nur demselben Stand, sondern sogar derselben Familie entstammen. Ihr Verhältnis könnte kaum enger sein: Sie sind Vater und Sohn. Entlang der „thesenhaften Kontrastierung und erzählerischen Exemplifizierung zweier Lebensformen, der Lebensform des rehte tuon und der Lebensform der Avaritia“ , ist folglich auch die moralische Intention Wernhers zu verstehen. Tugend ist weder vererbbar, noch an Standeszugehörigkeit gekoppelt, sie ist ein individueller Wert. Das Gegenüber von ‚rehte tuon’ und ‚unrehte tuon’ des Einzelnen legt als Bewertungsmaßstab zwar die Auswirkung auf die Gemeinschaft an, hat als Bezugspunkt jedoch immer die Gnade Gottes, ein Wert dessen Erhalt die wichtigste Tugend ist.
Worauf es dem Vater im Leben ankommt, beschreibt er in den Versen 253-258: „ich bin getriuwe, gewære,/ niht ein verrâtære; darzuo gibe ich alliu jâr/ ze rehte mînen zehenden gar:/ ich hân gelebet mîne zît/ âne haz und âne nît.“
Helmbrecht verleugnet seine Abstammung, denn der Weg, auf dem es der Vater zu hohem Ansehen gebrach hat, durch harte Arbeit, Ehrlichkeit und Bescheidenheit, ist ihm zu beschwerlich, er strotzt vor Hochmut: (V.268ff) „sô sollt mich got gehazzen,/ swenne ich dir ohsen wæte/ und dînen habern sæte“. Der Wohlstand des Vaters, der ihm ein sorgenfreies Leben garantiert, ist ihm nicht genug: Trotz der prächtigen Ausstattung, die ihm seine Familie bereitstellt, beklagt er sich über die Armut des Bauernlebens. Auch seine Eitelkeit ist grenzenlos: (V.271-278) Er kann sich seine Schönheit selbst nur damit erklären, dass er adliger Abstammung sei. Helmbrecht behauptet deshalb (und auch Gotelind), seine Mutter habe während der Schwangerschaft außerehelichen Beischlaf mit einem Ritter gehabt, was nach mittelalterlichen Glauben „Einfluss auf die Entwicklung der Leibesfrucht habe“ : (V.1374ff)
(Helmbrecht:) „dô mich mîn muoter hêt getragen/ fünfzehen wochen,/ dô kom zuo ir gekrochen/ ein vil gefüeger hovemann;/ von dem erbet mich daz an/ […] Dô sprach sîn swester Gotelint:/ jâ wæne ouch ich daz ich sîn kint/ von der wârheit iht ensî./ ez lac mîner muoter bî/ geselleclîche ein ritter kluoc,/ dô si mich in dem barme truoc.“
Diese Äußerungen „dokumentieren psychologisch den Hochmut und die Rücksichtslosigkeit der Kinder“ und Bausinger sieht darüber hinaus in dem Verstoß gegen das 4.Gebot nicht nur die Abkehr vom leiblichen Vater, sondern auch die Abkehr von Gott. Diesen Frevel, den Verzicht auf die Gnade Gottes durch Ungehorsam und Hochmut, begeht Helmbrecht auf drei verschiedenen Ebenen: neben der beschriebenen Störung der Familienordnung und der Störung der Ständeordnung, scheint sein schwerster Verstoß die Störung des Friedens zu sein. Denn letztlich wird er von den Bauern, denen er Leid angetan hat, aufgeknüpft, und erst dann ist wieder „…fride,/ sît Helmbreht ist an der wide.“ (V.1921f)

5. Schlussbetrachtung
Hermann Bausinger weist darauf hin, „dass der Dichter Wernher nicht mehr in einer und für eine Gesellschaft spricht, in der jedem einzelnen sein endgültiger Stand […] zugewiesen ist“ . Er betrachtet und bestraft in der Erzählung die Taten des Einzelnen, unabhängig — aber nicht losgelöst — von einem Ordo- Gedanke, der der tatsächlichen Gesellschaftsordnung immer weniger entspricht. Diese Denkweise wird an dem Gleichnis, das der Vater dem Sohn erzählt, deutlich: (V.495)
„ein frumer man von swacher art/ und ein edel man, an dem nie wart/ weder zuht noch êre bekannt,/ und koment die bêde in ein lant/ dâ niemen weiz wer si sint,/ man hât des swachen mannes kint/ für den edelen hôchgeborn/ der für êre hât schande erkorn./ sun, und wilt dû edel sîn,/ daz rât ich ûf die triuwe mîn,/ sô tuo vil edellîche“
Das bestehende Ständegefüge, von Gott geschaffen, ist nur eine der Rechtsordnungen, gegen die Helmbrecht verstößt. Aus dem Helmbrecht eine Ständelehre ableiten zu wollen, oder die Kriminalisierung des sozialen Aufstiegswillens als Wernhers moralische Intention auszumachen, scheint mir weit über das Verständnis des Textes hinauszugehen. Auch eine Rechtslehre ist nicht zu extrahieren, da Wernher die bestehende Rechtswirklichkeit zwar implizit kritisiert, sie aber nicht explizit thematisiert, sondern in künstlerischer Überhöhung modifiziert und verzerrt darstellt.
Die These der Globalisierung der Moral hat noch am meisten für sich, da sie keine spezifische Moral herausarbeiten möchte, sondern die „Gotteskindschaft, das Bekenntnis zur Bindung an Gott“ , als den Bezugspunkt aller Gesellschaftskritik im Helmbrecht identifiziert. Allerdings ist daran keine spezielle Lehre von Gott, eine Theologie auszumachen. Eine erhellende Deutungsperspektive zeigt hingegen Hannes Kästner auf, der die Ähnlichkeiten der Helmbrecht-Erzählung mit den Bußpredigten des Franziskaners Berthold von Regensburg unter dem Aspekt der Friedenswahrung betrachtet. Jegliches reht findet demzufolge seine letzte Begründung im fride, und der fride gilt als göttliches Schöpfungsgesetz. Im Epimythion (V.1913-1934) wird der Begriff zweimal erwähnt: als der Zustand, der durch „Helmbrehtes site“ unheilvoll gestört wurde, und, an zweiter Stelle, als Zustand, dessen Störung durch Erhängen bestraft wird.
Die „Durchsetzung von Friede und Recht als Haupttendenz der Erzählung“ scheint mir, wenn auch allgemein gehalten, die didaktische Intention des Autors am treffendsten zu beschreiben. Der Erhalt des Friedens setzt die Tugend des Einzelnen voraus, die Gesetze einzuhalten, die die Gnade Gottes bedingen. So könnte man rehtes tuon definieren, das am Leben des Meiers Helmbrecht exemplifiziert wird. Hochmut, Superbia, Hybris, Avaritia — wie auch immer man Helmbrechts Verstöße gegen die Rechtsordnung, also Gottes Ordnung, bezeichnet, man kann das Verhalten des jungen Antihelden als daz übele tuon generalisieren. Einen der Verstöße speziell und isoliert zu betrachten, hat deshalb keine erklärende Kraft.
„’Wê daz dich dîn muoter getruoc’./ sprach der vater zuo dem sun./ ‚du wiltz beste lân undz bœse tuon.“ (V.516-518)
In dieser Dualität zeigt Wernher der Gärtner, mit allen Konsequenzen, welcher Lebensweg richtig ist, und welcher nicht. „Der formulierte Gegensatz zwischen ‚Gut’ und ‚Böse’-Handeln findet sich […] fast wörtlich wieder“ in der Eingangspredigt der Sammlung deutscher Predigten Berthold von Regensburgs, „gleichsam als ein Grundsatzprogramm“ : „tuo daz guote unde lâ daz übele“

6. Verwendete Literatur
6.1. Primärliteratur
Wernher der Gartenære: Helmbrecht. Hrsg. von Friedrich Panzer und Kurt Ruh, 10. Aufl.
besorgt von Hans Joachim Ziegeler, Tübingen 1993 (Althochdeutsche Textbibliothek 11).
Wernher der Gärtner: Helmbrecht. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt
und erläutert von Fritz Tschirch, 4.Aufl., Stuttgart 2007.

6.2. Sekundärliteratur
Bausinger, Hermann: Helmbrecht. Eine Interpretationsskizze. In: Festschrift für Hugo
Moser zum 65.Geburtstag. Hrsg. von Werner Besch [u.a.], Berlin 1974, S. 200-215.
Honemann, Volker: Gesellschaftliche Mobilität in den Dichtungen des Mittealters. In:
Zwischen Nicht-Adel und Adel. Hrsg. von Kurt Andermann und Peter Johanek, Stuttgart 2001, S. 27-49.
Kästner, Hannes: ‘Fride und Recht’ im ‘Helmbrecht’: Wernhers Mære im Kontext
zeitgenössischer Franziskanischer Gesellschafts- und Ordnungsvorstellungen. In: Wernher der Gärtner: ‘Helmbrecht’. Die Beiträge des Helmbrecht-Symposions 2001. Hrsg. von Theodor Nolte und Tobias Schneider, Stuttgart 2001, S. 25-45.
Knapp, Fritz Peter: Wernher der Gärtner. In: Verfasserlexikon. Zweite völlig neu
bearbeitete Aufl., Berlin und New York 1978-1999, Bd.10, Sp.927-936.
Menke, Petra: Recht und Ordo-Gedanke im Helmbrecht. Frankfurt am Main 1993.
Schindele, Gerhard: Helmbrecht. Bäuerlicher Aufstieg und landesherrliche Gewalt. In:
Literatur im Feudalismus. Hrsg. von Dieter Richter, Stuttgart 1975, S. 131-211.
Schwob, Anton: Die Kriminalisierung des Aufsteigers im mittelhochdeutschen Tierepos
vom ‚Fuchs Reinhart’ und im Märe vom ‚Helmbrecht’. In: Zur gesellschaftlichen Funktionalität mittelalterlicher deutscher Dichtung. Hrsg. Von Wolfgang Spiewok, Greifswald 1984, S.42-67.
Seelbach, Ulrich: Späthöfische Literatur und ihre Rezeption im späten Mittealter.
Studien zum Publikum des ‘Helmbrecht’ von Wernher dem Gartenære. Berlin 1987.
Steer, Georg: Rechtstheologische Implikationen der Helmbrecht Dichtung Wernhers des
Gartenære. In: Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. Würzburger Colloquium 1978. Hrsg. von Volker Honemann [u.a.], Tübingen 1979, S.239-250.