Il Giorno Sulla Scala

Wer bemüßigt ist, sich einen Eindruck der italienischen Lebensweise zu vergönnen, dem sei nachdrücklich davon abgeraten, sich das kostbare Augenlicht, von dem noch zu sprechen sein wird, durch die Lektüre einschlägiger Kultur- und Reiseführer zu versauen oder sich das letzte Gelee aus den Kniescheiben reibend Museumsflure zu durchwandeln. Der von mir herzhaft empfohlene Kulturseitensprung ist dagegen mit einem geringfügigen Reiseaufwand verbunden: Buchen sie einen beliebigen Flug in eine beliebige Stadt Italiens und nehmen sie Platz auf einer beliebigen Treppe eines großen öffentlichen Platzes.
„Il giorno sulle scala“, der Tag auf der Treppe, ist die Empfehlung einschlägig erfahrener Italienreisender, um den schnellen soziokulturellen Zugang zu der so anderen Lebensweise dieses Volkes zu finden. Er beginnt gegen zehn, wenn die Straßenreinigung durch ist und die Treppe, die den Zugang zum Dom an der Piazza IV Settembre in Perugia bildet, erstmals ganz von der Sonne beschienen wird und sich der weiße Marmor seiner morgendlichen Feuchtigkeit enthüllt. Dann wechseln laut plappernd die ersten Menschen von den Barhockern der Pasticcerien, Panninotheken und Bars, im Stehen noch den letzten Rest Crema mit Zuckerrest aus der Espressotasse zutschend, auf die Treppe, die jetzt in ihrer jungfräulichsten Schönheit über den Platz wacht. Von hier schaut man den breiten Corso Vannucci hinunter, der einen leichten Knick macht bis zur Piazza Italia; das ist die Flaniermeile der Stadt.
Die ersten morgendlichen Spektakel: zwei Studentinnen feiern ihren Hochschulabschluss. Sie tragen Lorbeerkränze auf dem Kopf und köpfen mit ihren Freunden und der Familie eine Flasche Sekt nach der anderen. Es kommen immer wieder neue Bekannte hinzu und die meisten haben sich richtig schick gemacht, tragen Anzug oder Kleid, werden mit Gejohle, Gedrücke und Geknutsche begrüßt und fangen ebenfalls an, sich zu besaufen. Natürlich tragen alle Sonnenbrillen, aber vermutlich weniger wegen der Intensität der Sonnenstrahlen als der Intensität der Folgen des vortäglichen Rausches. Es sollte dringend einmal untersucht werden, ob die Druckstellen hinter dem Ohr, an denen die Bügel der Sonnenbrille reiben, die Testosteronproduktion des Körpers irgendwie beeinflussen!
Die ersten paar Schlücke Prosecco scheinen den meisten jedenfalls erhebliche Erleichterung zu verschaffen und der Geräuschpegel steigt. Unter anderem. Kinder schreien die Tauben von der obersten Kupferschale der Fontane Maggiore hinfort, das Fliegen von Sektkorken wird emphatisch begleitet und erste Lobgesänge auf die Ausgezeichneten wechseln langsam über in Trinklieder. Der vorläufige Höhepunkt ist erreicht, als aus einer lauthupenden Kolonne weiß geschmückter Autos ein Brautpaar entschwebt und – praktizierte Romantik – vom ganzen Platz beklatscht und mit Glückwünschen versehen wird, während es die Treppen zum Dom erklimmt. Es ist das erste von drei an diesem sonnigen Februarsamstag.
Während der anschließenden dreistündigen Pausa passiert nicht viel. Rumhängen. Sonnenbrille, Kippchen, Nickerchen, Chiacchiera (Geschwätz). Plötzlich breitet ein Typ in rotem Jogginganzug, Sandalen und weiß eingeschlagener Bibel seine Arme aus, um sich in savonarolischer Pathetik die Sieben Todsünden aus der behaarten Kehle zu pressen. Dann schwänzelt er die Treppe hinab, wiederholt seine Sorgen auf Höhe des Palazzo nochmals und verschwindet, komplett ignoriert, in einer der Gassen. Kippchen, Nickerchen, Chiacchiera… Der klassische Italiener, wenn nicht in Begleitung seiner Frau, lässt es sich dann nicht nehmen, hier und da mal ein bisschen rumzubaggern, Ehrensache. Wenn die Haare stimmen und das Wetter gut ist, sind der Libido der Italiener keine Barrieren mehr gesetzt. Die Frauen lassen es sich kichernd gefallen, oder jagen die Penetranten laut schimpfend fort, was jeder wissen kann, muss man schließlich nicht mit sich allein austragen!
Am späten Nachmittag mobilisiert sich jede gehfähige Kreatur der Stadt, um die Fahne im täglichen Flanierbetrieb hochzuhalten. Es scheint, als sei jede Familie gesetzlich verpflichtet, nicht nur testosteronproduzierende Sonnenbrillen zu tragen, sondern auch jeden Abend zwei repräsentative Angehörige zur Flaniermeile zu entsenden, die dann drei bis vier mal den Corso Vannucci auf- und ablaufen, bevor sie schlagartig um acht zum Abendessen verschwinden.
Zu welchem Zwecke des Nachts die Dachzinnen des armen alten Palazzo Publico malträtiert werden und was das mit dem Rauchverbot in Italien zu tun hat, erfahrt Ihr, geschätzte Leser, wenn ich in den nächsten Tagen wider erwarten nicht von einem Bus überfahren werde!