Die Konrad-Box

Straßenfest auf der Oberbaumbrücke in Berlin. Man schlendert von Stand zu Stand, das Kinn fachmännisch auf den Handballen gestützt, Bilder werden ausgestellt, die Künstler erklären, man diskutiert über Ästhetik, den Kunstbetrieb, das Künstlerleben, Inspiration, Krise, die Künstler, Künstlerprobleme und Kunst.
Da wird es dem kleinen Konrad zu bunt: das Volumen seiner winzigen einjährigen Lungen generiert einen schrill scheppernden Schrei, ein reiner Lustschrei, markerschütternd hoch: „Hallo, Action jetzt hier, los!!!“ Eine mittelalte Dame, die genau im Schalltrichter des Kindes stand, entstöpselt sich wieder, schüttelt den Schreck aus ihrem Cocktailkeid und dreht sich zu Konrad um, der bei seiner Mutter auf den Arm lümmelt. Nach einem tiefen Seufzer sagt sie: „Ach Kind – du unblockiertes Wesen!“
Wie wahr, denke ich. Ich meine, ich hätte gleich mehrere Gründe, lauthals zu schreien – aber würde ich es auf dieser Brücke voller Menschen tun? Sicher nicht. Irgendwo anders in der Öffentlichkeit? Nö! Ich vergrabe meinen seelischen Ballast lieber ganz tief. Ich würde es nicht mal zu Hause tun. Dabei ist es so unglaublich befreiend. Natürlich löst das keine Probleme. Andererseits: hat jemand schon mal bedröppelte Fressen beim Wacken gesehen? Egal wie martialisch die Metallköppe auch meist aussehen – ich hab noch nie einen getroffen, der „privat“ nicht lammfromm und ausgeglichen wirkte (Metallica-Sänger James Hetfield zum Beispiel: Inzwischen glücklicher Familienvater, der mit Obstschale auf dem Schoß nach dem Konzert zur Familie jettet). Sie brüllen sich halt samstags mal ordentlich den Staub der Woche von der Seele. Der Gegenbeweis für die Notwendigkeit emotionaler Befreiung durch hemmungsloses Schreien, Brüllen, Quietschen sind die Schnulzensänger. Die abgekanzeltsten Typen im ganzen Musikgeschäft verdienen ihr Brot mit Schlager, Pop und Soul. Selbstbetrug durch Süßholzraspeln, der nicht selten in Alkoholismus oder sogar Selbstmord mündet. Nur ein paar Beispiele: Rex Gildo, Matthias Reim, David Hasselhoff, Marvin Gaye, Dean Reed, Whitney Houston, Hartmut Engler, Roy Black,…
Wenn man sich das Heulen verkneift, kriegt man auch nur einen Kloß im Hals, dieses ekelhafte Gefühl, das einem die Kehle abschnürt – also rauslassen! Andererseits ist die Vorstellung, dass jeder an Ort und Stelle seinen Frust rausschreit, oder seine Lebenslust oder seine Geilheit oder was auch immer, ziemlich beängstigend. Man stelle sich nur mal die Schlange im Netto vor, an einem Freitagabend. Was für eine Fanfare des Leidens, eine Kakophonie aus dem Gezeter wartender Last-Minute-Shopper vor der Kasse, Pfandjäger an blockierten Rücknahmeautomaten, die Billigbier- und Weinbrandfraktion, denen eh schon der Schädel glüht, die genervten Eltern, ganz zu schweigen von den supergenervten Kassiererinnen, wenn sie mal wieder für ne Storno nach der Chefin klingeln müssen, die gerade heimlich die Bänder der Überwachungskamera im Umkleideraum kontrollieren wollte.
Oder Bahnhöfe. Arbeitsämter, Arztpraxen, Billigfluglinien. Ohne Gehörschutz nicht mehr betretbar.
Fazit: Schreien ist gut für die Psyche, aber schlecht für die öffentliche Ordnung. Damit der postmaterialistische Mensch dennoch seine seelische Balance im Alltag erhalten kann, brauchen wir demzufolge Schreiboxen. Kleine schalldichte Räume, die man bei Bedarf aufsuchen kann. Vielleicht noch mit einer Tret- oder Trommeloption. Ich schlage vor, wir nennen sie Konrad-Box. Robert Kummer

Wenn es sticht im Hals - einfach rausschreien!

Ein Kommentar

  1. andrea.gesellmann · August 16, 2010

    Hallo christian,
    ich kann schon einiges wahres aus deinem artikel befürworten, aber das du ausgerechnet meinen Lieblingssänger mit den anderen „Schnulzensängern“ vergleichst finde ich ungerecht.Ich habe „ihn“ gerade wieder live erlebt und erhat seine Probleme nicht verheimlicht sondern offen durch seine lieder verarbeitet.
    diese schreibbox ist eine notwendigkeit in unserer Gesellschaft glaube ich geworden. eine Schrei Box reicht vielleicht auch. damit wären manche Familientragödien vielleicht anders geklärt worden. ich verstehe dich ganz gut und bin erleichert das du mit diesen artikel auch bei dir selbst luft machst.
    lg andrea

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